Der Janson-Befehl
Muezzin die Gläubigen zum Gebet rief. Vermutlich wurde das Minarett nicht bewacht; ein Profi würde sich also problemlos Zugang verschaffen können. Wenn Jansons grobe Berechnungen zutrafen, hatte das auch einer getan.
Es war diabolisch. Ein Scharfschütze hatte sich auf dem Balkon des Minaretts postiert, aus der Perspektive des Berthwick House nicht viel mehr als ein Punkt, und hatte dort gewartet, bis seine Zielperson hinter den Fenstern auftauchte. Er würde reichlich Zeit gehabt haben, um sich den entsprechenden Winkel und die Schussbahn auszurechnen. Aber wie viele Männer gab es, die zu einem solchen Schuss fähig waren? Vierzig auf der ganzen Welt? Zwei oder drei Russen vielleicht. Der norwegische Scharfschütze, der in dem weltweiten Wettbewerb, der vergangenes Jahr in Moskau stattgefunden hatte, den ersten Preis davongetragen hatte. Zwei Israelis mit ihren Galil-7-62-Karabinern. Eine Hand voll Amerikaner.
Ein Meisterschütze verfügte über schier übernatürliches Geschick, und dazu auch schier übernatürliche Geduld. Er musste auf Unsicherheiten reagieren: Bei einem Schuss auf so lange Distanz konnte eine unerwartete Brise das Geschoss einen halben oder ganzen Meter vom Ziel abbringen. Das Zielobjekt konnte sich unerwartet bewegen; in diesem Fall hatte Berman die Hand gehoben, nachdem der Schuss abgefeuert worden war. Ein Scharfschütze musste sich solcher Eventualitäten bewusst sein. Und er musste geduldiger sein als sein Ziel.
Und doch, wer war das Ziel?
Der Butler hatte angenommen, dass es sein Arbeitgeber wäre, Berman. Eine nahe liegende Annahme. Und eine gefährliche. Er erinnerte sich daran, dass Berman ihm den Arm um die Schulter gelegt, ihn zu sich hergezogen hatte. Die Kugel, die den Russen getroffen hatte, war fünfunddreißig Zentimeter an Jansons Kopf vorbeigeflogen.
Fünfunddreißig Zentimeter. Eine unkontrollierbare Abweichung auf eine Distanz von über einem Kilometer. Ob es nun ein Treffer war oder nicht, die Genauigkeit des Schusses war unglaublich. Doch als vernünftige Annahme konnte man davon ausgehen, dass Janson das eigentliche Ziel war.
Er konnte die Sirene der Ambulanz hören, die Thwaite gerufen hatte. Und jetzt spürte er ein Zupfen an seinem Hosenbein - Berman, der am Boden kraftlos versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.
»Janson«, sagte er und sprach, als ob er den Mund voll Wasser hätte.
Sein fleischiges Gesicht hatte sich verfärbt, hatte die Farbe von Kalbfleisch angenommen. Ein dünnes Blutrinnsal sickerte ihm aus dem Mundwinkel aufs Kinn herunter. Die Luft pfiff durch seine Brustwunde, und er presste seine unverletzte rechte Hand darauf. Jetzt hob er die blutige linke Hand, wackelte mit dem Zeigefinger. »Sag mir Wahrheit - Turnbulland-Asser-Hemd ruiniert?«
Statt des üblichen schallenden Gelächters kam nur ein nasser Husten heraus. Wenigstens einer seiner Lungenflügel hatte sich mit Blut gefüllt und würde bald kollabieren.
»Es hat bessere Tage gesehen«, sagte Janson sanft und spürte eine Aufwallung von Zuneigung für den überschwänglichen Exzentriker.
»Schnapp dir den Hurensohn, der das getan hat«, flüsterte Berman. »Da?«
»Da«, versprach Janson mit belegter Stimme.
16
Thwaite zog Janson beiseite und sagte mit leiser Stimme: »Wer auch immer Sie sind, Mr. Berman muss Ihnen vertraut haben, sonst hätte er Sie nicht hierher eingeladen. Aber ich muss Sie jetzt bitten, schleunigst zu verschwinden.«
Die Andeutung eines Lächelns. »Chop-Chop.«
Janson rannte über das Eichenparkett, entlang der Wandvertäfelung aus dem 18. Jahrhundert, die eine Woolworth-Erbin vor Jahrzehnten hatte anbringen lassen, und durch den Hinterausgang ins Freie. Ein paar Minuten später war er über den schmiedeeisernen Zaun geflankt und hastete durch den östlichen Teil des Regent's Park. »Über tausend Hektar Park, mitten in London, wie mein Hinterhof«, hatte Berman gesagt.
War das sicher?
Garantien gab es keine - nur dass das der einzige Ort war, an den er sich zurückzuziehen wagte. Ein Scharfschütze auf dem Minarett konnte mit Leichtigkeit jeden aufs Korn nehmen, der das Berthwick House durch einen der anderen Ausgänge verließ. Aber der größte Teil des Parks lag für ihn im toten Winkel.
Außerdem kannte Janson diese Gegend. Als er in Cambridge gewesen war, hatte er einen Freund in Marylebone gehabt, mit dem er häufig Spaziergänge durch die grüne Insel inmitten Londons gemacht hatte, die dreimal so groß wie der Central Park von New York war.
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