Der Janson-Befehl
Machtergreifung behilflich gewesen waren. Ganze Familien wurden hingemetzelt - das war der so genannte Weiße Schrecken von Admiral Horthy. Vergeltungsmaßnahmen ... und wiederum Vergeltungsmaßnahmen dagegen - das war damals an der Tagesordnung. Vielleicht hat der Graf gespürt, dass das eines Tages auch ihn erfassen würde, dass seine Zusammenarbeit mit Premierminister Kallay das Todesurteil nicht nur für ihn, sondern für seine Familie bedeuten könnte.«
»Er hatte Angst vor den Kommunisten?«
»Den Faschisten und den Kommunisten, beiden. Ende vierundvierzig, Anfang fünfundvierzig, nachdem die Pfeil-kreuzler die Macht übernommen hatten, wurden Hunderttausende von Menschen getötet. Sie müssen bedenken, dass das Leute waren, die Horthy für zu lasch hielten. Echte, hausgemachte ungarische Nazis. Als dann die Rote Armee die Kontrolle über das Land übernahm, kam es zu einer weiteren Säuberungswelle. Wieder wurden Hunderttausende umgebracht. Feinde der Revolution, klar? Leute wie Ferenczi-Novak befanden sich in einer Zwickmühle. Wie häufig gibt es derartige ideologische Pendelschläge - ein Land, das von ganz links nach ganz rechts und dann aufs Neue nach ganz links kippt, mit nichts dazwischen?«
»Womit wir wieder bei der alten Frage wären: Wie kann man es verantworten, ein Kind in eine solche Welt hineinzusetzen?«, sinnierte Jessie. »Vielleicht dachten der Graf und die Gräfin, dass sie das einfach nicht tun dürften. Dass sie ihr Kind verstecken mussten.«
»Moses im Schilfkörbchen«, sinnierte Janson. »Aber das wirft eine ganze Menge neuer Fragen auf. Novak behauptet der Welt gegenüber, dass dies seine Eltern waren. Warum?«
»Weil es die Wahrheit ist?«
»Nein, das passt nicht. Ein solches Kind würde so aufgezogen worden sein, dass es Angst vor der Wahrheit hat, dass es die Wahrheit für gefährlich hält - um Himmels willen, vielleicht kennt er die Wahrheit nicht einmal. So ist das bei Kindern: Man darf dem Kind das, womit es nicht fertig werden kann, gar nicht sagen. Wenn in NaziDeutschland eine nichtjüdische Familie ein jüdisches Kind versteckt hatte, dann hat man ihm nie die Wahrheit gesagt, konnte sie ihm nicht sagen. Das Risiko war zu groß: Es könnte gegenüber seinen Spielgefährten oder einem Lehrer etwas Unpassendes ausplaudern. Die einzige Möglichkeit, es vor den Folgen einer potenziell tödlichen Wahrheit zu schützen, war die, es in Unkenntnis jener Wahrheit zu lassen. Man würde es ihm erst viel später sagen, wenn es einmal erwachsen war. Außerdem, wenn Novaks Eltern die waren, von denen er das behauptet, dann würde diese Gitta Bekesi das wissen. Da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube nicht, dass sie ein weiteres Kind hatten. Ich glaube, die alte Frau hat uns die Wahrheit gesagt: Peter Novak, der einzige Sohn des Grafen, ist als Kind gestorben.«
Die Schatten dehnten sich zu langen, schmalen Streifen, als die Sonne hinter dem fernen Berggipfel versank. Minuten später waren Lichtungen, die gerade noch golden geleuchtet hatten, plötzlich grau geworden. An einer Hügelflanke kommt der Sonnenuntergang schnell und fast ohne Vorwarnung.
»Das entwickelt sich zu einem gottverdammten Spiegelkabinett - ähnlich dem, von dem Oma Gitta uns erzählt hat. Gestern haben wir uns gefragt, ob irgendein Betrüger Peter Novaks Identität angenommen hat. Jetzt sieht es mehr und mehr so aus, als hätte Peter Novak selbst die Identität eines anderen übernommen. Ein totes Kind, ein ausgelöschtes Dorf - und damit eine Chance für jemanden, sich diese Identität anzueignen.«
»Identitätsdiebstahl«, sagte Janson. »Perfekt ausgeführt.«
»Genial, wenn Sie einmal darüber nachdenken. Man wählt ein Dorf aus, das im Krieg total liquidiert worden ist - sodass praktisch niemand mehr da ist, der sich an seine Kindheit erinnern kann. Sämtliche Unterlagen, alle Geburts- und Sterbeurkunden bei der Vernichtung der Ortschaft zerstört.«
»Sich zum Sohn eines Aristokraten zu machen war ein kluger Schachzug«, sagte Janson. »Das hilft eine Menge Fragen beantworten, die man vielleicht sonst in Bezug auf seine Herkunft gestellt hätte. Niemand muss sich fragen, wieso er eine so gute Ausbildung haben und so weltläufig sein konnte, ohne dass es irgendwelche Aufzeichnungen in Erziehungsinstituten über seinen Werdegang gibt.«
»Genau. Wo ist er zur Schule gegangen? Hey, er hatte Privatlehrer - das Kind eines Grafen, nicht wahr? Warum gibt es keine Belege hinsichtlich seiner Laufbahn? Weil
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