Der Janson-Befehl
Das gemeinsame Leid hatte sie einander nahe gebracht, aber nur auf kurze Zeit. Er war der Verursacher ihres Leids, das ließ sich nicht wegdiskutieren, und Marina würde wahrscheinlich nie verstehen, wie sehr ihn der Verlust seines Freundes traf, wie sehr ihn Schuldgefühle quälten.
In dem Zimmer roch es nach abgestandenem Schweiß, was darauf hindeutete, dass das Reinigungspersonal den Raum erst vor kurzem verlassen hatte. Und die Vorhänge waren zugezogen, zu einer Zeit, wo sie normalerweise offen waren. Immer noch im Bann seiner aufgewühlten Gefühle, zog Janson daraus nicht die Schlüsse, die er sonst gezogen hätte. Das Leid hatte sich wie ein dünner Gazevorhang zwischen ihn und die Welt geschoben.
Erst als seine Augen sich dem Licht im Raum angepasst hatten, sah er den Mann, der, mit dem Rücken den Vorhängen zugewandt, auf einem Polstersessel saß.
Janson zuckte zusammen, griff nach einer Waffe, die er nicht hatte.
»Es ist lange her, dass wir den letzten Drink miteinander genommen haben, Paul«, sagte der Mann auf dem Sessel.
Janson erkannte die seidig salbungsvoll klingende Stimme des Mannes sofort, das kultivierte Englisch mit der winzigen Andeutung eines griechischen Akzents. Nikos Andros.
Erinnerungen stiegen in ihm auf, nur wenige davon angenehm.
»Es verletzt mich, dass Sie Athen besuchen und mir nicht Bescheid sagen«, fuhr Andros fort, stand auf und ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Ich dachte, wir wären Freunde. Ich dachte, ich wäre jemand, den Sie auf einen Drink besuchen, auf ein Glas Ouzo. Ein Schluck auf alte Zeiten, mein Lieber. Nein?«
Die hohen Backenknochen, die kleinen, stets wachsam blickenden Augen: Nikos Andros gehörte in eine andere Epoche von Jansons Leben, in einen Abschnitt, hinter dem er für immer die Tür geschlossen hatte, nachdem er seinen Dienst bei Consular Operations quittiert hatte.
»Wie Sie hier hereingekommen sind, ist mir gleichgültig meine einzige Frage ist jetzt, wie Sie es vorziehen würden, wieder zu verschwinden«, sagte Janson, dem in diesem Augenblick nicht nach vorgetäuschter Jovialität zu Mute war. »Am schnellsten wohl über den Balkon, acht Stockwerke nach unten.«
»Redet man so mit einem Freund?«
Andros trug sein Haar millimeterkurz gestutzt; seine Kleidung war wie immer teuer und sah aus, als käme sie frisch aus dem Modeatelier: der schwarze Kaschmirblazer, das mitternachtsblaue Seidenhemd, die auf Hochglanz polierten Schuhe aus feinstem Kalbsleder. Jansons Blick fiel auf den überlangen Nagel an Andros' kleinem Finger, eine affektierte Marotte gewisser Athener, die damit ihren Abscheu für jede Art körperlicher Arbeit zur Schau stellten.
»Ein Freund? Wir haben miteinander Geschäfte gemacht, Nikos. Aber das liegt weit zurück. Ich bezweifle, dass Sie etwas zu verkaufen haben, was mich interessiert.«
»Keine Zeit für ein kleines Verkaufsgespräch? Sie müssen es eilig haben. Aber was soll's. Ich bin heute großzügig gestimmt. Ich bin nicht hier, um Informationen zu verkaufen. Ich gebe sie Ihnen gratis.«
In Griechenland war Nikos Andros als Konservator der nationalen Kunstschätze bekannt. Als Kurator des Archäologischen Museums von Piräus und engagierter Kämpfer für die Erhaltung der archäologischen Schätze seines Landes wurde er häufig in Fragen der Repatriierung von Kunstschätzen zitiert und sprach sich in regelmäßigen Abständen dafür aus, dass die Marmorkunstwerke von Elgin in das Land zurückgebracht werden sollten, aus dem man sie geraubt hatte. Er wohnte in einer Villa im neoklassizistischen Stil in dem schattigen Athener Vorort Kifissia, an den unteren Hängen des Pendeli-Berges, und war ein prominentes Mitglied der Athener Elite. Als bedeutender Fachmann für klassische Archäologie war er ein gesuchter Gast in den Salons der Reichen und Mächtigen ganz Europas. Weil er gut lebte und gelegentlich Andeutungen über das Geld seiner Familie machte, genoss er die bei den Griechen verbreitete Hochachtung für den anthropos kalos anatrophes, den Mann von guter Abstammung.
Janson dagegen wusste, dass der soignierte Kurator als Sohn eines Ladenbesitzers in Thessaloniki aufgewachsen war. Er wusste auch, dass Andros' hart erarbeitete gesellschaftliche Prominenz für seine Karriere als Informationsmakler im Kalten Krieg bedeutsam gewesen war. In jener Zeit war der Sektor Athen ein Zentrum im Netzwerk der CIA ebenso wie dem des KGB gewesen. Damals wurden häufig Spione durch die BosporusMeerenge geschleust, und die
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