Der Janson-Befehl
Botenjunge.«
»>Botenjunge< sagen Sie?«
»Mehr sind Sie doch nie gewesen.«
Andros lächelte, um seine Augen bildeten sich winzige Fältchen, wie ein Spinnennetz. »Erinnern Sie sich an die Geschichte von Marathon? Im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt haben die Perser eine Invasion gestartet und sind in der Küstenstadt Marathon gelandet. Ein Botenjunge, Phidippides, erhielt den Auftrag, nach Athen zu laufen und Truppen anzufordern. Die Armee der Athener, die im Verhältnis eins zu vier unterlegen war, startete einen Überraschungsangriff, und was zuerst wie Selbstmord aussah, wandelte sich in einen glanzvollen Sieg. Die Leichen Tausender Perser bedeckten das Schlachtfeld. Die Überlebenden flohen auf ihre Schiffe, um den Versuch zu machen, Athen direkt anzugreifen. Eine geheime Nachricht musste nach Athen gebracht werden, um die Stadt über den Sieg und den bevorstehenden Angriff zu unterrichten. Man beauftragte noch einmal den Botenjungen Phidippides damit. Dabei hatte er den ganzen Morgen in schwerer Rüstung auf dem Schlachtfeld gestanden. Doch das machte ihm nichts aus. Er rannte die ganze Strecke, rannte, so schnell die Füße ihn trugen, rannte die zweiundvierzig Kilometer, überbrachte die Nachricht und brach dann tot zusammen. In Griechenland haben Botenjungen eine große Tradition.«
»Überraschungsangriffe und geheime Botschaften - ich kann gut verstehen, dass Ihnen das imponiert. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Andros. Weshalb ausgerechnet Sie?«
»Weil ich zufälligerweise gerade in der Gegend war, mein Freund.«
Wieder lächelte Andros. »Mir gefällt die Vorstellung, dass Phidippides vielleicht diesen Satz hervorgestoßen hat, ehe er zusammenbrach. Nein, Janson, Sie verstehen das ganz falsch. In diesem Fall gehört die Botschaft dem, der ihren Empfänger ausfindig machen kann. Man hat Tausende von Brieftauben ausgeschickt - und diese hier ist zufälligerweise am Ziel eingetroffen. Anscheinend hatten Ihre alten Kollegen Ihre Fährte verloren, bis sie erfuhren, dass Sie in diesem Land eingetroffen waren.
Man hat mich gebraucht, mich, mit meinem Netz von Verbindungen. Ich kenne in praktisch jedem Hotel jemanden, jeder taverna, jedem kapheneion und jeder ouzeri in diesem Teil der Stadt. Also habe ich eine Nachricht ausgeschickt und eine bekommen. Meinen Sie denn, dass irgendein amerikanischer Attaché so schnell arbeiten könnte?«
Andros lächelte und legte dabei zwei gleichmäßige Reihen scharf aussehender, fast raubtierhafter Zähne frei. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mich weniger um den Sänger und mehr um das Lied sorgen. Sehen Sie, für Ihre Leute ist es ungemein wichtig, mit Ihnen zu sprechen, weil sie Sie nämlich brauchen, damit Sie ihnen gewisse Dinge erklären.«
»Was für Dinge?«
Andros seufzte tief und theatralisch. »Es sind Fragen bezüglich Ihrer jüngsten Aktivitäten aufgetaucht, die einer sofortigen Erklärung bedürfen.«
Er zuckte die Schultern. »Schauen Sie, ich weiß nichts von diesen Dingen. Ich wiederhole nur eine Formulierung, die man mir gegenüber gebraucht hat - so wie das ein alternder Schauspieler in einer unserer epitheorisi, unserer Seifenopern, tun würde.«
Janson lachte geringschätzig. »Sie lügen.«
»Und Sie sind unhöflich.«
»Meine früheren Auftraggeber würden einen solchen Auftrag unter keinen Umständen Ihnen anvertrauen.«
»Weil ich ein outheteros bin? Ein Unparteiischer? Aber sehen Sie, ich habe mich auch geändert, wie Sie. Ich bin ein neuer Mensch.«
»Sie, ein neuer Mensch?«, spottete Janson. »Doch wohl kaum neu. Und kaum das, was man einen Menschen nennt.«
Andros' Schultern strafften sich. »Ihre ehemaligen Auftraggeber ... sind meine derzeitigen Auftraggeber.«
»Wieder eine Lüge.«
»Keine Lüge. Wir Griechen sind Leute der agora, des Marktes. Aber es gibt keinen Markt ohne Wettbewerb. Freier Markt, Wettbewerb - nicht wahr? Begriffe, denen Ihre Politiker so bereitwillig Lippendienste leisten. Die Welt hat sich im letzten Jahrzehnt sehr verändert. Einmal war der Wettbewerb lebhaft. Jetzt haben sie die agora für sich alleine. Sie besitzen den Markt und nennen ihn frei.«
Er legte den Kopf zur Seite. »Was soll man also tun? Meine ehemaligen Klienten im Osten machen die Brieftasche auf, und es flattert nur eine Motte heraus. Deren Geheimdienste interessiert bloß, ob es diesen Winter in Moskau genug Heizöl geben wird. Ich bin ein Luxus, den sie sich nicht länger leisten können.«
»Im KGB gibt
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