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Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs

Titel: Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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Ray Ban singt, sagt er: ja. Dann frage ich ihn, wie alt ein Mann eigentlich werden muß, damit nicht jedes seiner Lieder mit «Mujer» beginnt. Diese Frage versteht er nicht. Solange ein Cantatore singen kann, wird er den Frauen seinen Atem schenken. Im guten wie im bösen. Beides ist ein Kompliment. Er persönlich habe sich für die Sehnsucht und gegen die Erfüllung entschieden. Die Sehnsucht hält länger. «Sie ist treuer als ein Hund», sagt der alte Zigeuner.
    Die Sehnsucht folgt dir in jedes Haus, in jede Hütte, in jedes Bett, sie geht mit dir über alle Straßen, über die Berge, über das Meer. Ihr ist nichts zu schwer, nichts zu unbequem, und sie bleibt bei mir, als ich das Zelt verlasse, um mich ein wenig umzuschauen. Das Festgelände ist etwa so groß wie zwei, drei Fußballfelder und angelegt wie eine kleine Stadt mit Alleen und Plätzen, nur daß am Straßenrand Zelte statt Häuser stehen. Ich schätze, es sind so an die zweihundert, und in jedem wird olé! geschrien.
    Pferde, Kutschen, Reiter, wohin das Auge blickt. Klassische Garderobe, eng tailliert. Und Hüte, die sofort herunterfallen, wenn man eine weniger stolze Haltung einnimmt. Ich kam mir vor wie in einem Film, sagen wir «1492», in dem Gérard Depardieu Kolumbus spielt. Phasenweise war es auch «Don Quichotte». In Jerez und Umgebung gibt es mehr Pferde als irgendwo sonst in diesem pferdeverliebten Land, denn in Jerez befinden sich die königlich spanische Reitschule und die Ställe der Sherry-, Stier- und Viehbarone, und die andalusischen Cowboys, die deren Herden kontrollieren, brauchen ebenfalls Pferde, die sich im Kreis drehen können und aus dem Stand galoppieren.
    Jeder Einwohner dieser Stadt kann reiten, jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, und die kleinen Señores und Señoritas verlieren manchmal die Kontrolle über ihren prächtigen Araberhengst. Um ein Haar werde ich niedergeritten. Aber vor jedem der Flamencozelte stehen Sherry-Fässer, etwa so groß wie Regentonnen, hinter denen man sich in Sicherheit bringen kann.
    Ich lehne an den Fässern und sehe lange in den Mond. Mir scheint, ich habe etwas verloren. Die schönsten Feste werden bedeutungslos, wenn ich sie nicht teilen kann. «Hola, hombre», sagt jemand hinter mir. Ich drehe mich um und schaue wieder in die unergründliche Welt der schwarzen Ray Ban. Zufall? Oder ist er mir gefolgt? Er ist nicht allein, Tio Pepe ist bei ihm. Er bietet mir die Flasche an. «Der Mond ist das beste Telefon», sagt der alte Zigeuner, «wenn man sicher sein kann, daß am anderen Ende der Liebe jemand steht, der auch zum Mond aufsieht.»
    Ich reiße mich los von dem Himmelstelefon, wir gehen ein Stück zusammen. Wer nicht reitet, der tanzt. Einer der Vorteile am Flamenco ist, daß er Hände als vollwertige Instrumente akzeptiert. Vier Hände reichen für Schlag und Gegenschlag, für Frau und Mann am Wegesrand, und wenn ein Clan im Kreis zusammensteht, ist das Geschehen dynamischer als in jeder Diskothek. Unweit eines großen Pavillons hält der Alte inne. Der Pavillon ist so voll, daß zahllose Tänzer ihre Köpfe und Oberkörper aus den offenen Fenstern schwingen lassen. Musik: ich glaube, Gipsy Kings. Ich habe eine Erkenntnis, nichts Weltbewegendes, nichts Neues, aber mir persönlich kommt sie zum ersten Mal. Um mich herum tanzt eine ganze Stadt, Menschen jeglichen Alters und aller Einkommensklassen, und ich sehe, wie unwichtig die Unterschiede sind, denn der Tanz macht sie alle schön. Er hat seine eigene Form. Wie ein eigenständiges Wesen, vor dem der Tänzer verblaßt und zweitrangig wird.
    Die lange Reise der Zigeuner. Von jeder Station ihrer Jahrhunderte währenden Tour haben sie das Beste mitgebracht. Ich sehe Südindien in den Bewegungen ihrer Hände, ich sehe Persien in der Haltung ihrer Köpfe, ich sehe Arabien, Ägypten und Marokko, was den Bauchtanz angeht, und dann sehe ich, direkt vor mir, Beine, die diesen panorientalischen Rhythmus an die legendären spanischen Stiefelabsätze weitergeben.
    «Warum tanzt du nicht mit ihr?» fragt der alte Zigeuner.
    «Flamenco ist zu schwer», antworte ich.
    «Unsinn. Beim Flamenco gibt es die Technik, und es gibt das Gefühl. Die Technik lernst du nie. Das Gefühl hast du schon.»
    Also tanze ich, und das Mädchen dreht sich um mich, und ich höre die Männer singen und die Pferde galoppieren und bin angekommen, wo es nie ein Gestern gab und kein Morgen geben wird, obwohl es früher Morgen ist und die Sonne den Mond vertreibt und aus meiner

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