Der Jesus vom Sexshop: Stories von unterwegs
Der Raver hielt ihn zu den Neonröhren hoch, die kalt von der Decke strahlten, um das fluoreszierende Material zu prüfen. Der Dildo wurde zum Zauberstab, der Kauf war fast getätigt. Aber eine Frage hatte der Kunde noch: «Gibt es auch welche, die man umschnallen kann?» Und dahin war die «Goa-Party-Deko-Ausrede». Die Ausreden sind ohnehin ein eigenes Kapitel. «Habt ihr auch Strumpfbänder?» fragten zwei Mädchen beim Reinkommen. Und raus gingen sie mit einer ganzen Kollektion abwaschbarer Reizwäsche. Okay, das war keine Ausrede, das war Understatement.
Gruppen dagegen brauchen keine Entschuldigung für den Sexshop-Besuch. Sie kommen grundsätzlich ohne Kaufabsichten, sie kommen wegen der Gaudi. Tom stoppte die fünf Engländer, noch bevor sie alle im Laden waren. «Sorry», sagte er, «mehr als drei dürfen hier nicht rein.» Die Engländer wollten es nicht glauben, aber Tom erwies sich als überzeugungsstark. Das sei Usus in kleinen Sexshops wie diesem. Nur drei auf einmal. Die anderen beiden könnten ja so lange vor der Tür warten. Natürlich ließen sie sich nicht darauf ein und zogen zusammen wieder ab. «Es geht nicht nur darum, daß sie nichts kaufen», erklärte mir Tom. «Die echten Kunden kaufen dann auch nichts. Die werden durch die Gruppen in ihrer Trance gestört.»
Ein gutes Beispiel dafür stellte sich ziemlich bald ein. Der junge Mann war sehr klein und versteckte sein Kartoffelgesicht unter der Kapuze seines Parkas. Er schämte sich ganz ungemein für das von ihm gewählte Produkt. Tom half sofort. «Gib dem Herrn mal eine Tüte», sagte er zu mir. Die Tüte entspannte den Kunden, die Anrede auch. «Ja, der Herr» und «Klar, der Herr» und «Wenn der Herr jetzt noch zahlen würden» bauten den kleinen, häßlichen Kunden sichtlich auf. Er nahm nicht die Kapuze ab, aber er hielt den Kopf jetzt so, daß man geradeaus in seine Augen blicken konnte. Ich sah Dankbarkeit.
Ist Tom ein heiliger Mann? Ein Sexshop-Jesus? So weit will ich nicht gehen. Er hat ein Herz für Verlierer. Das macht ihn zu einem guten Verkäufer in einem schlechten Geschäft. Schlecht im Sinne von bad vibrations . Langsam schlichen sie sich in mein Herz. Das kalte Deckenlicht wurde kälter, die Pornoregale einsamer, die Armee der Nackten und Verstrapsten auf den DVDs, Magazinen und Verpackungen sah für mich irgendwann wie eine Tapete in der Hölle aus. Kann es sein, daß die Strafe für Pornographie der Zwang zur Ekstase ist?
Glücklicherweise hatten wir dann wieder einmal Muße, dem Geschehen im Fernseher zu folgen, der für die Verkäufer hinter dem Tresen steht. Arte. Themennacht. Indien. Ein Liebesfilm aus Bollywood. Ich kann gar nicht sagen, wie gut das tat. Die ganze Welt um mich herum war Sex in allen Erscheinungsformen, und in indischen Liebesfilmen wird nicht einmal geküßt.
Ana Marrakchi, mon ami
(Marrakesch)
I ch könnte mich selbst dafür ohrfeigen oder mich ins Bein beißen oder täglich dreimal laut Sch …, Sch …, Sch … schreien, daß ich das Haus damals nicht gekauft habe. Okay, ich hab’s versucht, dreimal, und dreimal hat Mustafa nein gesagt. Er werde es nie verkaufen, weil es das Stammhaus der Familie sei, er sei darin geboren, seine acht Geschwister seien darin geboren, sein Urgroßvater habe es gebaut, er verkaufe niemals. Ich Idiot habe ihm geglaubt.
Es war ein großes Haus, mit vier Orangenbäumen im Innenhof, um nicht Innengarten zu sagen, Springbrunnen, Rosen, Kacheln, neun Zimmern, und eines davon war ein Hundertzwanzig-Quadratmeter-Salon mit sechs Meter hohen Wänden und sechs Fenstern, drei zur Gasse, drei zum Patio, komplett gefliest. Entweder lagen Sonnenstrahlen auf den Kacheln oder das Licht der Gaslaternen, mit denen die Gassen beleuchtet werden, wenn es Abend wird, und das Ganze hätte ich damals für siebzigtausend Mark haben können. Damals, das war vor zehn Jahren. Heute verlangen sie das Siebenfache für so ein Haus, weil sie ja auch das Siebenfache für eine Rasur verlangen und das Siebentausendfache für einen Stuhl oder eine Lampe. «Antik, Antik!» (Marrakesch hat ein neues Zauberwort), der Tourismus boomt nicht mehr, er explodiert. In der Masse UND in der Qualität. Die internationale High-Society, was sage ich: die Stars, die Götter haben die Medina, die Altstadt, entdeckt, eine der größten Medinas überhaupt; wer sie zum ersten Mal betritt, glaubt, er betritt einen Traum, ein Märchen, eine Wunderwelt, das real existierende Tausendundeine Nacht, und ruck, zuck
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