Der Joker
lasse mich beschimpfen und verprügeln - und wofür? Was ist für mich drin? Was ist für Ed Kennedy drin?
Ich werd’s dir sagen:
Nichts.
Aber ich sage nicht die Wahrheit.
Ich sage nicht die Wahrheit, und ich schwöre, jetzt in diesem Moment, dass ich damit aufhören werde. Ich habe viel durchgemacht, und ich dachte, dass ich nach dem Kreuz-Ass endlich über den Berg wäre.
Ich höre auf.
Mit allem.
Und ich tue etwas sehr Dummes...
Ich stehe auf, ohne darüber nachzudenken, gehe zu Audrey und küsse sie auf den Mund. Ich fühle die roten Lippen und die Körperlichkeit und die Luft in ihr drin, und mit geschlossenen Augen fühle ich sie eine ganze Sekunde lang. Ich fühle ihr ganzes Sein, und es hetzt an mir vorbei,
durch mich hindurch, über mich hinweg, und mir ist heiß und kalt und eisig und glühend und ich bin völlig erledigt.
Ich bin erledigt von dem Geräusch meines Mundes, der von ihrem wegrutscht, bis die Stille wieder zwischen uns wankt.
Ich schmecke Blut.
Dann sehe ich Blut, auf Audreys Lippen in Audreys überraschtem Gesicht.
Herrgott, ich kann sie nicht einmal ordentlich küssen. Ich kann sie nicht küssen, ohne dass sich meine Wunden öffnen und ich sie voll blute.
Ich mache meine Augen zu.
Presse sie fest zusammen.
Und wieder höre ich mit allem auf und sage: »Tut mir Leid, Audrey.« Ich wende mich ab. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich...« Und auch die Worte hören jetzt auf. Sie begehen Selbstmord, bevor es zu spät ist. Wir beide stehen in der Küche.
Beide haben wir Blut auf den Lippen.
Sie will nicht auf diese Art und Weise für mich empfinden, und ich akzeptiere das, aber ich frage mich auch, ob sie jemals begreift, dass niemand sie so sehr liebt wie ich. Sie wischt sich das Blut vom Mund, und ich sage wieder, wie Leid es mir tut. Audrey ist so liebenswürdig wie immer und nimmt meine Entschuldigung an, erklärt mir, dass sie sich einfach nicht auf so eine Sache mit mir einlassen kann. Ich glaube, es ist ihr lieber, wenn ihren Affären keinerlei Bedeutung oder Wahrheit anhaftet. Wenn es nur um Sex geht, um nichts anderes. Wenn sie keine Liebe will, von niemandem, dann muss ich das respektieren.
»Schon gut, Ed«, sagt sie, und sie meint es auch so.
Glücklicherweise sind Audrey und ich in der Lage, auch nach so einer Situation noch Freunde zu sein. Irgendwie gelingt es uns. Es scheint keine Rolle zu spielen, was geschehen ist. Einen Moment lang denke ich über diese Tatsache nach, und - um ehrlich zu sein - ich frage mich, wie lange das noch gut gehen kann. Sicher nicht für immer.
»Guck nicht so böse, Ed«, sagt sie später, bevor sie geht.
Ich kann mir nicht helfen.
Ich schenke ihr ein Lächeln.
»Viel Glück mit dem Pik«, sagt sie.
»Danke.«
Die Tür schließt sich.
Es ist jetzt fast zwölf. Ich ziehe meine Schuhe an und mache mich auf den Weg in die Bücherei. Ich fühle mich lächerlich.
Es stimmt zwar, dass ich schon jede Menge Bücher gelesen habe, aber ich habe sie alle gekauft, meistens in Secondhand-Buchläden. Das letzte Mal, als ich in einer Bücherei war, gab es da noch diese ellenlangen Schränke mit Karteikarten. Sogar nachdem man in der Schulbibliothek Computer angeschafft hatte, benutzte ich immer noch diese Karteikarten. Ich mochte es, eine Karte herauszuziehen und den Namen des Autors sowie die Titel der von ihm verfassten Bücher vor mir zu sehen.
Als ich in die Bücherei gehe, erwarte ich eine alte Dame hinter dem Schalter, aber es ist ein junger Typ, etwa in meinem Alter, mit langem, lockigem Haar. Er ist ein bisschen vorlaut, aber er ist mir trotzdem sympathisch.
»Wo sind denn die Karten?«, frage ich ihn.
»Was für Karten? Spielkarten? Straßenkarten? Kreditkarten?« Er amüsiert sich augenscheinlich sehr gut. »Was genau meinst du?«
Ich merke, dass er mich ungebildet und dämlich erscheinen lassen will, obwohl ich dazu nun wirklich nicht seine Hilfe brauche. »Du weißt schon«, sage ich zu ihm, »diese Karten, wo die Schriftsteller und die Bücher draufstehen.«
»Oh!«, sagt er und lacht aus vollem Hals. »Du warst wohl ziemlich lange nicht mehr in einer Bücherei, was?«
»Stimmt«, sage ich. Jetzt fühle ich mich tatsächlich ungebildet und dämlich. Ich könnte genauso gut ein Schild um den Hals tragen, auf dem »Analphabet« steht. Dagegen muss ich etwas tun. »Aber ich habe Joyce gelesen und Dickens und Conrad.«
»Wer ist denn das?«
Jetzt habe ich Oberwasser. »Wie
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