Der Judas-Code: Roman
vertreiben.
Tatsächlich funktionierte es - bis Susan auf einmal einen grauenhaften Schrei ausstieß.
Lisa schreckte zusammen und fuhr herum. Susan saß kerzengerade in ihrem Sitz und starrte mit geweiteten Augen auf die aufgehende Sonne. Etwas in ihren Augen aber flammte noch heller.
Bodenloses Entsetzen.
»Susan?«
Sie reagierte nicht. Lautlos bewegte sich ihr Mund. Lisa musste ihr von den Lippen ablesen. »Sie dürfen da nicht hingehen.«
»Wer? Wohin?«
Susan antwortete nicht. Ohne den Blick zu senken, setzte sie den Finger auf die Landkarte auf ihrem Schoß.
Lisa las den Namen ab, auf den sie zeigte.
»Angkor.«
16
Bayon
7. Juli, 06:35
Angkor Thom, Kambodscha
Gray marschierte mit den anderen auf das große Tor der ummauerten Tempelanlage von Angkor Thom zu. Die tief stehende Morgensonne warf lange Schatten auf den südlichen Zugangsweg. Das Zirpen der Zikaden untermalte den Morgenchor der Frösche.
Abgesehen von einer Handvoll Touristen und zwei Mönchen in safrangelben Gewändern waren sie zu dieser frühen Stunde auf der Brücke allein. Der erhöhte Weg erstreckte sich über die Länge eines Fußballfelds und war gesäumt von Statuen; vierundfünfzig Götter auf der einen und vierundfünfzig Dämonen auf der anderen Seite. Sie überblickten einen größtenteils ausgetrockneten Graben, in dem einmal Krokodile geschwommen waren und die große Stadt und den Königspalast im Inneren der Anlage bewacht hatten. In dem von Erdwällen eingefassten tiefen Graben wechselten sich smaragdgrüne, algenbedeckte Tümpel mit Gras- und Unkrautstreifen ab.
Im Gehen legte Vigor einer der Dämonenstatuen die Hand auf den Kopf. »Beton«, sagte er. »Die meisten Originalköpfe wurden gestohlen. Ein paar sind noch in kambodschanischen Museen zu sehen.«
»Hoffentlich wurde nicht auch das gestohlen, wonach wir suchen«, bemerkte Seichan mürrisch. Der Wortwechsel, den sie im Van mit Nasser geführt hatte, ging ihr offenbar immer noch nach.
Gray hielt sich von ihr fern. Er war sich nicht sicher, welcher der beiden Gildenagenten der gefährlichere war.
Nassers Vierzig-Mann-Team hatte sie in die Mitte genommen, eine mit Khakiuniformen und schwarzen Baretten bekleidete Eskorte. Nasser ging einen Schritt hinter ihnen und blickte sich ständig
wachsam um. Einige der Touristen zeigten Interesse an ihrer Gruppe, doch ansonsten wurden sie nicht weiter beachtet. Dafür waren die Ruinen zu faszinierend.
Am Ende des Wegs umschlossen zehn Meter hohe Mauern aus verwitterten Steinblöcken die alte Stadt. Ihr Ziel - der Bayon-Tempel - lag innerhalb der Einfassung. Die Ruinen waren noch immer von dichtem Wald umgeben. Riesige Palmen beschatteten die Mauern und das fünfundzwanzig Meter hohe Tor. In den Steinturm waren vier große Gesichter eingemeißelt, die in die vier Himmelsrichtungen wiesen.
Gray betrachtete die mit Flechten überwachsenen und von Rissen durchzogenen Gesichter. Trotz ihres schlechten Zustands wirkten sie irgendwie friedlich: Die breite Stirn beschattete tief liegende Augen, die wulstigen Lippen waren leicht geschwungen; ein Lächeln, das nicht minder rätselhaft war als das der Mona Lisa.
»Das Lächeln von Angkor«, meinte Vigor, der Grays Blick mit den Augen gefolgt war. »Das ist Lokesvara, der Bodhisattva des Mitgefühls.«
Gray sprach ein lautloses Gebet, dass dieses Mitgefühl auf Nasser ausstrahlen möge, und sah auf die Uhr. Noch fünfundzwanzig Minuten, dann war wieder eine Stunde um, und Nasser würde anordnen, seiner Mutter einen weiteren Finger abzuschneiden.
Um ihn davon abzuhalten, mussten sie einen Fortschritt vorweisen, der den Schuft beschwichtigen würde. Doch was sollte das sein?
Gray spürte eine Beklemmung in der Brust. Er fühlte sich hinund hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach loszustürzen und nach den Hinweisen zu suchen, die Nasser Einhalt gebieten würden, und dem nicht minder starken Verlangen, ihn so lange wie möglich hinzuhalten, damit Direktor Crowe mehr Zeit hatte, das Versteck seiner Eltern ausfindig zu machen.
Er bemühte sich verzweifelt, einen Ausgleich zwischen diesen beiden Extremen zu finden.
»Seht mal - Elefanten!«, sagte Kowalski und zeigte etwas zu aufgeregt auf das große Eingangstor. Er eilte ein paar Schritte vor, sodass sich der lange Mantel hinter ihm bauschte.
Hinter dem Tor standen zwei weißgraue indische Elefanten. Die Stoßzähne hatten sie auf den Boden gesenkt, die Augen waren schwarz von Fliegen. Einer der Führer half gerade einem
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