Der Judas-Code: Roman
»Ein chinesischer Forscher namens Zhou Daguan hat ein Jahrhundert nach Marcos Durchreise einen großartigen Bericht über diese Region verfasst. Also hat das Reich dank des Heilmittels, das auch Marco zugutekam, letztendlich überlebt, doch die Virenquelle hat überdauert, sodass die Pest in der Folgezeit wiederholt ausgebrochen ist und das Reich immer weiter schwächte. Nicht einmal die thailändischen Eroberer haben Angkor besetzt. Sie haben die gewaltige Infrastruktur verfallen und vom Urwald überwuchern lassen. Man fragt sich natürlich, warum sie das taten. Hatten sie Angst vor der Pest? Haben sie die Gegend absichtlich gemieden, weil sie glaubten, sie sei verflucht?«
Seichan war unterdessen näher gekommen. »Wollen Sie damit andeuten, der Krankheitsauslöser befinde sich immer noch hier?«
Vigor zuckte mit den Schultern. »Die Antworten auf unsere Fragen sind im Bayon zu finden.« Er zeigte auf eine Lücke im Wald.
Eingerahmt vom Dschungel, war vor ihnen ein steil ansteigender Sandsteinberg aufgetaucht, ein Muster aus tiefen Schatten und Vorsprüngen, die in der Morgensonne taufeucht funkelten. Um den Berg waren kleinere Gipfel angeordnet, die sich zu einem gewaltigen Gebirgsmassiv zusammendrängten. Der Tempel wirkte auf Gray irgendwie organisch, wie ein Termitenbau, eine Erhebung mit vage definierten Begrenzungslinien, so als hätte jahrhundertelanger Regen den Sandstein aufgelöst und in diese pockennarbige, fließende Masse umgewandelt.
Dann zog eine Wolke vor der Sonne vorbei, die Schatten vertieften und verlagerten sich. Aus der Steinmasse traten große
Dämonengesichter mit sphinxhaftem Lächeln hervor, welche die gesamte Oberfläche bedeckten und in alle Himmelsrichtungen blickten. Der Berg in der Mitte erwies sich nun als eine Ansammlung dicht übereinandergeschichteter Türme, ein jeder verziert mit dem gewaltigen Gesicht Lokesvaras.
»›Im Schein des Vollmonds ragte ein großer Berg aus dem Wald auf, geschmückt mit tausend Dämonengesichtern‹«, murmelte Vigor.
Gray schauderte. Das waren Marcos eigene Worte. Hier hatte er seinem Beichvater nachgeschaut, als Pater Agreer auf das Steingebirge mit den gemeißelten Gesichtern zugegangen war. Auf einmal wurden ihm vor Beklommenheit die Füße schwer. Er zwang sich, wieder schneller zu gehen.
Bislang waren sie Marcos Fußstapfen gefolgt... jetzt war es an der Zeit, seinem Beichtvater zu folgen. Aber wohin war Pater Agreer gegangen?
06:53
Als der Tempel immer höher vor ihnen aufragte, legte sich ein lastendes Schweigen auf die Gruppe. Die meisten blickten zu den Tempelruinen hoch, während Vigor sich einen Moment Zeit nahm, seine Begleiter zu mustern. Seit ihrem Eintreffen in Angkor Thom nahm er zwischen Gray und Seichan eine unterschwellige Spannung wahr. Die beiden waren noch nie Busenfreunde gewesen, doch es hatte eine angespannte Vertraulichkeit zwischen ihnen geherrscht. Zwar lieferten sie sich nach wie vor hitzige Wortgefechte, doch die körperliche Distanz hatte im Laufe des vergangenen Tages abgenommen, und sie waren einander näher gerückt.
Vigor bezweifelte, dass sie sich dessen bewusst waren.
Seitdem sie jedoch aus dem Van ausgestiegen waren, wirkten sie wie umgepolt, als ob sie sich gegenseitig abstießen. Sie hielten nicht nur auf Abstand, sondern Gray musterte Seichan auch finster, wenn sie ihm den Rücken zuwandte. Seichan hingegen hatte sich wieder verhärtet und kniff Augen und Lippen zusammen.
Jetzt hielt sie sich mehr an Vigor, als suchte sie bei ihm Trost,
brächte es aber nicht fertig, ihn darum zu bitten. Sie fixierte die Tempelruine. Sie waren dem Bauwerk inzwischen so nahe gekommen, dass die wahre Breite des Bayon erkennbar wurde.
Vierundfünfzig Türme, auf drei Ebenen zusammengedrängt.
Am auffälligsten aber waren die gemeißelten Gesichter.
Es gab über zweihundert davon.
Das Morgenlicht veränderte sich mit dem Zug der Wolken und schuf die Illusion, die Gesichter wären lebendig, bewegten sich und musterten die Besucher.
»Warum sind es so viele?«, murmelte Seichan.
Vigor konnte sich denken, dass sie die Steingesichter meinte. »Das weiß niemand«, erwiderte er. »Man sagt, das seien Wächter, die verborgene Geheimnisse schützen. Angeblich wurde der Bayon auf den Fundamenten eines älteren Bauwerks errichtet. Die Archäologen haben ummauerte Räume entdeckt, in denen weitere Gesichter versteckt sind, für immer in der Dunkelheit eingeschlossen.«
Vigor deutete nach vorn. »Der Bayon war der letzte
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