Der Judas-Code: Roman
Touristen, der eine schwere Kamera um den Hals trug, auf den schwankenden, bunt geschmückten Sitz, der Howdah genannt wurde. An einem in einen Autoreifen einzementierten Stock war ein Schild befestigt mit der mehrsprachigen Aufschrift ELEFANTENRITT ZUM BAYON.
»Nur zehn Dollar«, sagte Kowalski.
»Ich glaube, wir gehen lieber zu Fuß«, erwiderte Gray.
»Ja, mitten durch die Elefantenscheiße durch«, meinte Kowalski enttäuscht. »Sie werden noch bedauern, sich die zehn Dollar gespart zu haben.«
Gray verdrehte genervt die Augen und bedeutete Kowalski, Nassers Männern durch das Tor von Angkor Thom zu folgen.
Hinter dem Tor lag ein gepflasterter Weg, der beschattet wurde von hohen Kapokbäumen, deren verdrehte Wurzeln sich unter den Steinblöcken hindurch- und darüber hinwegschlängelten. Samenkapseln knirschten unter den Füßen.
Vor ihnen wurde der Wald dichter und verdeckte die Sicht.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Nasser. Er hielt sich einen Meter entfernt und hatte die Hand in die Jackentasche gesteckt.
Vigor zeigte nach vorn. »Bis zum Bayon-Tempel müssen wir eine Meile durch den Dschungel laufen.«
Nasser sah auf die Uhr, dann blickte er Gray an; die Drohung war unmissverständlich.
Eins der allgegenwärtigen Tuk Tuks brummte vorbei. Das war hier das Hauptbeförderungsmittel, eine Art Rikscha, die von einem Zweitakter-Motorrad gezogen wurde. Die beiden deutschen Touristen fotografierten die Eskorte mit den schwarzen Baretten. Dann verschwanden sie in der Ferne.
Gray folgte der Abgaswolke und ging schneller.
Kowalski musterte misstrauisch das Palmen- und Bambusdickicht.
Im Gehen erklärte Vigor: »In Angkor Thom haben früher über hunderttausend Menschen gelebt.«
»Wo gelebt?«, entgegnete Kowalski. »Etwa in Baumhäusern?«
Vigor deutete mit weit ausholender Geste auf den Wald. »Die meisten Häuser, auch die der Königsfamilien, waren aus Bambus und Holz errichtet und sind inzwischen verrottet. Nur die Tempel hat man aus Stein erbaut. Früher war das hier eine geschäftige Großstadt, auf den Märkten wurden Fisch, Reis, Obst und Gewürze feilgeboten, und in den Häusern wimmelte es von Schweinen und Hühnern. Die Stadtplaner hatten auch an ein umfangreiches Bewässerungs- und Abwassersystem gedacht. Es gab sogar einen Zoo für die Königsfamilie, wo kunstvolle Zirkusaufführungen stattfanden. Angkor Thom war eine pulsierende Stadt, farbenfroh und laut. Bei Festen stiegen Feuerwerkskörper in den Himmel. Die Musiker waren zahlreicher als die Krieger. Sie hatten Becken, Handglöckchen, Röhrentrommeln, Harfen und Lauten, Trompeten und Muschelhörner.«
»Ein richtiges Orchester«, brummte Kowalski unbeeindruckt.
Während Gray das Dickicht musterte, versuchte er, sich eine solche Stadt vorzustellen.
»Und was wurde aus den Leuten?«, fragte Kowalski.
Vigor rieb sich das Kinn. »Obwohl wir über das Alltagsleben einiges wissen, liegt die Geschichte von Angkor noch immer weitgehend im Dunkeln, und man ist auf Hypothesen angewiesen. Für die schriftlichen Aufzeichnungen benutzte man heilige Bücher aus Palmblättern, die sogenannten Sastra. Wie die Häuser haben auch sie nicht überdauert. Deshalb ist man auf die Flachreliefs der Tempel angewiesen, wenn man sich ein Bild von der Geschichte Angkors machen will. Was mit der Bevölkerung geschah, ist daher immer noch ein Rätsel. Man weiß nicht, was aus den Menschen geworden ist.«
Gray hielt Schritt mit dem Monsignore. »Ich dachte, sie wurden von den Thais angegriffen und die hätten die Khmer-Kultur vernichtet?«
»Ja, aber viele Historiker und Archäologen glauben, der Thai-Invasion werde zu große Bedeutung beigemessen und das Volk der Khmer sei schon vorher geschwächt gewesen. Eine Theorie besagt, die Khmer hätten aufgrund einer Konversion zu einer friedlicheren Spielart des Buddhismus an militärischer Stärke eingebüßt. Einer anderen Theorie zufolge ist das ausgedehnte Bewässerungs-
und Wasserversorgungssystem, auf dem der Wohlstand des Königreiches beruhte, verfallen und verschlammt, sodass die Stadt leichter erobert werden konnte. Allerdings gibt es auch historische Hinweise auf ein wiederholtes Auftreten der Pest.«
Gray musste an Marcos Totenstadt denken. Sie schritten über ebenjene Totenfelder, die jetzt mit Wald und Dickicht überwachsen waren. Die Natur war zurückgekehrt und hatte die Spuren menschlichen Einwirkens ausradiert.
»Wir wissen, dass Angkor auch noch nach Marcos Tod bewohnt war«, fuhr Vigor fort.
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