Der Judas-Code: Roman
Tempel, der in Angkor errichtet wurde. Damit ging eine jahrhundertelange Periode ständiger Bautätigkeit zu Ende.«
»Warum hat man mit dem Bauen aufgehört?«, fragte Gray und rückte etwas näher an Vigor heran.
Vigor musterte ihn von der Seite. »Vielleicht hat man etwas entdeckt, das von weiteren Erdarbeiten abgeschreckt hat. Als die Khmer-Baumeister den Bayon errichteten, haben sie tief gegraben. Ein Viertel des Bayon liegt unterirdisch.«
»Tatsächlich?«
Vigor nickte. »Die Anlage der meisten Tempel hier in Angkor geht auf Mandalas zurück. Mehrere übereinandergestapelte Rechtecke, die das materielle Universum darstellen, umgeben einen kreisförmigen Turm in der Mitte. Der Mittelturm symbolisiert den magischen Berg der Hindu-Mythologie. Den Berg Meru, die Heimstatt der Götter. Weil der Tempel teilweise unterirdisch liegt, schließt er den magischen Berg gewissermaßen in sich ein und veranschaulicht, wie er das Erdreich durchdringt und sich zum Himmel erhebt. Es heißt, in den unteren Ebenen des Bayon seien sowohl Schätze als auch grauenhafte Dinge verborgen.«
Inzwischen waren sie am Ende des Wegs angelangt. Er mündete auf einen gepflasterten Platz. Vor ihnen ragte der gewaltige Tempel auf. Dutzende Steingesichter blickten auf sie nieder. Touristen kletterten auf den verschiedenen Tempelebenen herum.
Sie gingen an einer Reihe geparkter Tuk Tuks vorbei. An Verkaufsbuden wurden alle möglichen Früchte feilgeboten: Mangos, Brotfrüchte, Tamarinden, chinesische Datteln, sogar kleine, softballgroße Wassermelonen. Magere Kinder wuselten zwischen den Ständen umher und erinnerten mit ihrem Gelächter und Geschrei an die Geschäftigkeit, die früher hier geherrscht hatte. An der anderen Seite saßen auf Webmatten sechs ernste Mönche in safrangelben Gewändern, die mit geneigten Köpfen inmitten einer Wolke von Räucherwerk beteten.
Im Vorbeigehen sandte Vigor sein eigenes Stoßgebet gen Himmel und bat um Kraft, Weisheit und Schutz.
Kowalski war weiter vorn an einem der Verkaufsstände stehen geblieben. Eine runzlige alte Frau mit kreisrundem Gesicht beugte sich über ein Kohlenbecken, über das sie Holzspieße mit Frühstückshappen gelegt hatte, Hühner- und Rindfleisch neben Schildkröte und Eidechse. Kowalski schnupperte an einem der appetitanregenden Spieße.
»Ist das vielleicht eine Weichkrabbe?«, fragte er und fächelte sich den Duft zu. Auf den Holzstab war etwas Fleischiges mit verkohlten, mehrgliedrigen Beinen gespießt.
Die Frau nickte heftig und schenkte ihm ein breites Lächeln. Sie sagte etwas auf Khmer.
Seichan stellte sich neben Kowalski und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist gegrillte Tarantel. Wird in Kambodscha gerne zum Frühstück genommen.«
Kowalski wich schaudernd zurück. »Nein danke. Da bleib ich lieber bei meinem Egg McMuffin.«
Ein weniger wählerischer Dieb - ein Makak - flitzte aus den Tempelruinen hervor, schnappte sich hinter dem Rücken der Frau eine Kornähre und huschte unmittelbar vor Kowalski vorbei. Der große Mann wich erschrocken zurück und rempelte Gray an.
Kowalski schob die Hand unter die Jacke.
Gray packte seinen Ellbogen und drückte fest zu. »Das war doch nur ein Affe.«
Kowalski schüttelte Grays Hand ab. »Ja, klar, aber ich kann Affen nicht ausstehen.« Finsteren Blicks stürmte er weiter. »Hab mal eine schlechte Erfahrung mit so ’nem Viech gemacht. Will aber nicht drüber reden.«
Kopfschüttelnd geleitete Vigor sie zum Osteingang des Bayon. Vom erhöhten Fußweg waren nur noch vereinzelte Steinblöcke erhalten, zwischen denen riesige Dattelpalmen und Kapokbäume wuchsen, deren Wurzeln sich überall umherschlängelten. Nacheinander betraten sie unter den wachsamen Blicken weiterer Bodhisattva-Gesichter die erste Tempelebene.
Sie gelangten in einen von Galerien gesäumten Innenhof. Die Wände zierten von oben bis unten kunstvolle, in Reihen angeordnete Flachreliefs. Vigor betrachtete eins der Reliefs. Es waren Alltagsszenen dargestellt: Ein Fischer warf sein Netz aus, ein Bauer erntete Reis, zwei Köche stritten sich inmitten einer Menschenmenge, eine Frau briet Spieße über einem Kohlenbecken. Dieses Bild erinnerte ihn an die alte Frau mit den gegrillten Taranteln und verdeutlichte ihm, wie eng Vergangenheit und Gegenwart noch immer verknüpft waren.
»Wo fangen wir an?«, fragte Gray, von dem vier Hektar großen Tempelgelände entmutigt.
Vigor hatte Verständnis für seine Bestürzung. Schon von hier aus war zu
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