Der Judas-Code: Roman
schließen, hatte an Bord ein heftiger Kampf stattgefunden. Auf dem Boden war eine Blutspur; offenbar hatte man einen Verwundeten weggeschleift.
In der Präsidentensuite hatten sie einen weiteren Gefangenen angetroffen.
Ryder Blunt, der Besitzer der Kreuzfahrtlinie, näherte sich dem Butler und nahm ein paar Gläser vom Tablett. Er trug Jeans und ein Rugbyhemd und hatte Ähnlichkeit mit dem jungen, sonnengebräunten Sean Connery.
Er reichte die Whiskygläser herum. »Ich glaube, wir können alle einen wärmenden Schluck Macallan gebrauchen«, sagte er und zog an einer qualmenden Zigarre. »Und sei es nur deshalb, um die Nerven zu beruhigen. Selbst wenn das nicht funktionieren sollte, ist es immer noch besser, wir plündern meine Vorräte, als wenn diese Schufte es tun.«
Wie die meisten Leute war auch Lisa über Ryders Vorgeschichte im Bilde. Der Australier war erst achtundvierzig und hatte mit der Entwicklung von Verschlüsselungssoftware zum Herunterladen von urheberrechtlich geschütztem Material ein Vermögen verdient. Seinen Gewinn hatte er in mehrere lukrative Immobilien und Firmen gesteckt. Als ewiger Junggeselle war er zudem bekannt für seine ausgefallenen Hobbys: Tauchen mit Weißen Haien, Heli-Skifahren in abgelegenen Gegenden, Basejumping von Hochhäusern in Kuala Lumpur und Hongkong. Außerdem
galt er als freigebig, denn er unterstützte zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen.
Deshalb hatte es nahegelegen, dass er sein Schiff zur Versorgung der Kranken zur Verfügung stellte. Im Nachhinein mochte er seine Großzügigkeit freilich bedauern.
Er reichte Lisa ein Glas Whisky. Sie schüttelte den Kopf.
»Mädchen, überleg’s dir«, knurrte er, das Glas in der ausgestreckten Rechten. »Wer weiß, ob diese Gelegenheit je wiederkommmt.«
Sie nahm das Glas hauptsächlich deshalb entgegen, weil sie wollte, dass er sie in Ruhe ließ. Der Zigarrenqualm brannte ihr in den Augen. Sie nippte an dem bernsteinfarbenen Getränk. Flüssiges Feuer rann in ihren Bauch und wärmte sie von innen. Sie atmete etwas von der Wärme aus. Gleich fühlte sie sich besser.
Als die Gläser verteilt waren, ließ sich der Milliardär in einen Sessel sinken. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, funkelte die Bewaffneten an und zog an seiner Zigarre.
Henri, der neben Lisa stand, stellte endlich die Frage, die alle beschäftigte. »Was wollen die Piraten von uns?«
Lindholm schniefte; von dem Schlag ins Gesicht bekam er allmählich ein blaues Auge. »Wir sind Geiseln.« Er musterte den Milliardär misstrauisch.
»Auf Sir Ryder mag das zutreffen«, stimmte Henri ihm halblaut zu. »Aber warum sind wir dann hier? Unser aller Vermögen würde nicht mal seine Portokasse füllen.«
Lisa wedelte sich Zigarrenqualm aus dem Gesicht. »Sie haben die wichtigsten Wissenschaftler hier versammelt. Aber woher kannten sie unsere Namen?«
»Vielleicht hat die Besatzung ihnen eine Liste gegeben«, meinte Lindholm mürrisch. Abermals bedachte er Ryder mit einem schiefen Blick. »Offenbar stecken einige Besatzungsmitglieder mit den Angreifern unter einer Decke.«
Ryder hatte ihn gehört. »Sollte ich je erfahren, wer dahintersteckt«, brummte er, »lasse ich sie an der Rahnock aufknüpfen.«
»Moment mal... wenn sie die wichtigsten Wissenschaftler hier versammeln wollten, weshalb wurde dann Dr. Graff, der Meeresforscher,
nicht ebenfalls herbestellt?«, fragte Benjamin Miller. Er wandte sich an Lisa. »Oder Ihr Kollege, Dr. Kokkalis? Weshalb sind die außen vor geblieben?«
Miller trank einen Schluck und schnupperte den kräftigen Duft des Single Malt. Der Bakteriologe mit Oxford-Abschluss war nicht unattraktiv. Er hatte dichtes kastanienbraunes Haar und grüne Augen. Er war nur knapp eins sechzig groß, wirkte aufgrund seiner rundlichen Schultern und seiner gebeugten Haltung, die wahrscheinlich von den vielen Stunden am Mikroskop herrührte, aber noch kleiner.
»Dr. Miller hat recht«, sagte Henri. »Weshalb wurden ihre Namen nicht ebenfalls aufgerufen?«
»Vielleicht wussten die Schufte, dass die beiden nicht an Bord sind«, meinte Lindholm.
»Oder sie wurden bereits gefangen genommen.« Miller blickte mitleidig in Lisas Richtung. »Oder getötet.«
Vor Sorge krampfte sich alles in Lisa zusammen. Sie hatte gehofft, Monk wäre dem Überfall entgangen und riefe Hilfe herbei, doch das war wohl reines Wunschdenken. Als der Angriff erfolgte, hätte Monk eigentlich schon zurück sein sollen.
Henri schüttelte den Kopf, leerte in einem Zug
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