Der Judas-Code: Roman
sein Glas und senkte die Hand. »Es ist sinnlos, Spekulationen über ihr Schicksal anzustellen. Aber wenn die Piraten wussten, dass unsere Kollegen das Schiff verlassen haben, würde daraus folgern, dass es sich nicht um eine bloße Geiselnahme handelt.«
»Was könnten sie sonst wollen?«, fragte Miller.
Das Geräusch eines sich nähernden Helikopters lenkte ihre Blicke zur offenen Balkontür. Es dröhnte zu laut, als dass es sich um den kleinen Eurocopter hätte handeln können, der bei der Seeschlacht Luftunterstützung gewährt hatte. Die ganze Gruppe trat geschlossen zur Tür. Ryder stieß eine Rauchwolke aus, erhob sich und gesellte sich zu ihnen.
Vom Meer her wehte ein frischer Wind. Es roch nach Salz und ein wenig nach Chemie, vielleicht eine Folge der Giftkatastrophe oder des auf dem Wasser brennenden Öls. Der qualmende Kutter der australischen Küstenwache war von einer Rakete getroffen worden und trieb mit Schlagseite ganz in der Nähe.
Vom Bug gelangte ein grauer Militärhelikopter mit zwei Doppelrotoren in Sicht. Er schwenkte aufs Meer hinaus und verwirbelte den Qualm. Er flog zu der Stadt am Ufer hinüber, die an mehreren Stellen brannte. Nach erledigtem Auftrag kehrte er um, kam zum Schiff zurückgeflogen und verschwand außer Sicht. Offenbar war er auf der Hubschrauberplattform gelandet.
Das Dröhnen der Rotoren wurde leiser und verstummte dann ganz.
In der plötzlichen Stille nahm Lisa ein neues Grollen wahr. Der Boden vibrierte leicht.
»Das Schiff bewegt sich«, sagte Henri.
Ryder fluchte, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen.
Henri hatte recht. So langsam wie der Stundenzeiger einer Uhr zog die brennende Stadt vorbei.
»Das Schiff nimmt Fahrt auf«, sagte Miller.
Lindholm ballte die Faust vor der Brust.
Lisa verspürte eine ähnliche Angst wie er. Die Vorstellung, dass Land in der Nähe war, hatte etwas Tröstliches. Jetzt wurde ihnen auch das noch genommen. Sie atmete schneller und pumpte doch immer weniger Luft in die Lunge. Bestimmt würde bald jemand merken, was hier vorging, und Nachforschungen anstellen. In drei Stunden sollte sie Painter anrufen. Wenn sie sich nicht meldete...
Sie sah auf die Uhr, dann sprach sie Ryder an. »Mr. Blunt, wie schnell ist das Schiff?«
Er drückte gerade die Zigarre in einem Aschenbecher aus. »Die derzeitige Inhaberin der Hales-Trophäe hat den Atlantik mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von vierzig Knoten überquert. Das ist verdammt schnell.«
»Und die Mistress?«
Ryder klopfte gegen das Schott. »Die ist der Stolz der Flotte. Die Maschine kommt aus Deutschland, der Rumpf ist ein Monohull. Das Schiff macht siebenundvierzig Knoten.«
Lisa begann zu rechnen. Wenn sie sich in drei Stunden nicht meldete, wann würde Painter anfangen, sich Sorgen zu machen? Sie schüttelte den Kopf. Painter würde keine Minute länger warten.
»Drei Stunden«, murmelte sie vor sich hin. Vielleicht wäre es dann schon zu spät. .. Sie wandte sich wieder Ryder zu. »Gibt es hier eine Seekarte?«
»Einen Globus«, sagte Ryder. »In der Bibliotheksecke.«
Er geleitete sie zu einer Nische mit Wandregalen aus Teakholz. In der Mitte stand ein Globus aus Holz. Lisa beugte sich darüber und drehte ihn, bis sie die indonesischen Inseln vor sich hatte. Sie überschlug die Zahlen im Kopf und maß die Entfernung mit den Fingern ab.
»In drei Stunden wird das Schiff in der Inselkette untergetaucht sein.«
Die Region war ein Labyrinth aus zahllosen kleineren Atollen und Inselchen, aus denen Java und Sumatra aufgrund ihrer Größe hervorstachen. Insgesamt gab es hier über achtzehntausend Inseln, verteilt über ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten. Abgesehen von den Großstädten Jakarta und Singapur lebten die Menschen hier noch wie in der Steinzeit. Auf einigen abgelegenen Inseln gab es sogar noch Kannibalismus. Wollte man ein Kreuzfahrtschiff verstecken, war man hier genau richtig.
»Das Schiff kann man nicht stehlen!«, rief Lindholm, der ihnen zur Bibliothek gefolgt war. »Was ist mit den Überwachungssatelliten? Ein großes Kreuzfahrtschiff kann man nicht verstecken.«
»Sie sollten diese Leute nicht unterschätzen«, entgegnete Henri. »Zunächst muss überhaupt erst mal jemand nach uns suchen.«
Da hatte er wohl recht. In Anbetracht der Schnelligkeit des Angriffs und der Tatsache, dass Besatzungsmitglieder in leitender Funktion an der Aktion beteiligt gewesen waren, musste man davon ausgehen, dass dem Überfall wochenlange Planung
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