Der Judas-Code: Roman
verweigerte, wurde mit dem Tod bestraft. Der Khan stellte solche Pässe nur den in seinem Auftrag reisenden Gesandten zur Verfügung.«
»Hübsch«, meinte Kowalski und pfiff anerkennend - aufgrund des begehrlichen Funkelns in seinen Augen vermutete Gray allerdings, dass er eher dem Gold als der Geschichte Respekt zollte.
»Und die Polos besaßen solche Pässe?«, fragte Seichan.
»Drei Stück. Einen für jeden Polo - für Marco, seinen Vater und seinen Onkel. Es gibt sogar eine berühmte Anekdote bezüglich der Pässe. Als die Polos in Venedig eintrafen, wurden sie angeblich von niemandem erkannt. Sie waren abgerissen und müde und liefen mit einem einzigen Schiff in den Hafen ein. Sie sahen wie Bettler aus. Keiner wollte ihnen glauben, dass sie die lange vermisst geglaubten Polos seien. Als sie an Land traten, schlitzten sie jedoch die Säume ihrer Gewänder auf, aus denen sich ein wahrer Schatz an Smaragden, Rubinen, Saphiren und Silber ergoss. Dazu gehörten auch die drei goldenen Paitzus, die detailliert beschrieben wurden. Anschließend aber verschwanden die goldenen Pässe. Und zwar alle drei.«
»Die gleiche Zahl wie bei den Landkartenschlüsseln«, bemerkte Gray.
»Woher haben Sie den?«, fragte Seichan. »Haben Sie ihn in einem vatikanischen Museum gefunden?«
»Nein.« Vigor tippte auf das aufgeschlagene Notizbuch mit der Engelschrift. »Mithilfe eines Freundes habe ich ihn unter den Marmorfliesen mit der Inschrift entdeckt. In einer Art Geheimfach.«
Genau wie beim Kruzifix des Beichtvaters, dachte Gray. Begraben im Stein.
Victor fuhr fort: »Ich glaube, das ist einer der Paitzus, die der Khan den Polos geschenkt hat.« Er musterte die Anwesenden. »Und ich glaube, das ist der erste Schlüssel.«
»Dann würde der Hinweis auf die Hagia Sophia...«, setzte Gray an.
»... zum zweiten Schlüssel führen«, beendete Vigor den Satz. »Noch zwei fehlende Pässe und zwei fehlende Schlüssel.«
»Aber woher wollen Sie das so genau wissen?«, fragte Seichan.
Vigor drehte die goldene Tafel um. Die Rückseite war mit einem einzigen Zeichen verziert. Mit einem Zeichen der Engelsprache.
Vigor tippte auf das Zeichen. »Das ist der erste Schlüssel.«
Gray wusste, dass er recht hatte. Er blickte zu der Kirche hinüber. Die Hagia Sophia. Dort musste der zweite Schlüssel versteckt sein, doch die Ausmaße des Bauwerks waren gewaltig. Es war in etwa so, als suchten sie in einem Heuhaufen nach einer goldenen Nadel. Das konnte Tage dauern.
Vigor hatte seine Gedanken anscheinend erraten. »Es schaut sich bereits jemand für mich in der Kirche um. Ein Kunsthistoriker des Vatikans, der mir bereits im Turm der Winde geholfen hat, das Rätsel der Engelsprache zu lösen.«
Gray nickte. Wie er so das Schriftzeichen betrachtete, vermochte er eine tiefe Besorgnis nicht abzuschütteln. Seine Sorge galt seinen Freunden: Monk und Lisa. Sie waren in Gefahr. Wenn er nicht mit Washington sprechen durfte, könnte er ihnen vielleicht auf andere Weise helfen: indem er der Gilde zuvorkam und das Rätsel löste.
Sie mussten die Totenstadt und das Heilmittel finden.
Und zwar vor der Gilde.
Den Blick auf den Sonnenaufgang gerichtet, dachte Gray an Vigors Bemerkung, Marco sei hier von Asien nach Europa übergewechselt. Schon immer hatte diese alte Stadt eine Mittlerfunktion gehabt. Im Norden lag das Schwarze Meer, im Süden das Mittelmeer. Der Bosporus, eine wichtige Handelsroute und Meeresstraße, verband die beiden Meere miteinander. Von besonderer geschichtlicher Bedeutung war der Umstand, dass Istanbul sich auf
beiden Ufern ausdehnte. Mit einem Fuß stand es in Europa, mit dem anderen in Asien.
Das Gleiche ließ sich auch über die Stellung der Stadt im Strom der Zeit sagen.
Mit einem Fuß in der Gegenwart, mit dem anderen in der Vergangenheit.
Immerzu am Scheideweg.
Genau wie er selbst.
Plötzlich klingelte es. Vigor wandte sich um und fischte sein Handy aus dem Rucksack. Stirnrunzelnd las er die Nummer des Anrufers ab. »Der Anruf kommt aus D. C.«, sagte er.
»Das muss Direktor Crowe sein«, meinte Gray warnend. »Sagen Sie ihm nichts. Fassen Sie sich möglichst kurz. Nach dem Gespräch sollten Sie den Akku herausnehmen, damit das Handy nicht geortet werden kann.«
Vigor verdrehte angesichts dieser Paranoia die Augen und klappte das Handy auf. »Pronto«, sagte er.
Während Vigor lauschte, vertiefte sich sein Stirnrunzeln immer mehr. »Chi parla?«, fragte er erregt. Nach einer Weile drehte er sich um und
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