Der Judas-Code: Roman
Urinuntersuchung und der Stuhlkulturen.
Auf dem Nachttisch lag ein Tablett mit sorgfältig ausgerichteten Untersuchungsinstrumenten: Otoskop, Augenspiegel, Stethoskop, Endoskop. Alle Instrumente hatte sie im Laufe des Vormittags benutzt. Auf einem anderen Nachttisch lagen die ziehharmonikaartig gefalteten Ausdrucke der EKG- und EEG-Untersuchung. Sie hatte sie aufmerksam studiert, Zentimeter für Zentimeter. Im Laufe des gestrigen Tages hatte sie die ganze Krankengeschichte der Patientin und einen Großteil der Untersuchungsergebnisse der Virologen und Bakteriologen der Gilde gelesen.
Die Patientin lag nicht im Koma. Die exakte Zustandsbezeichnung
lautete »katatonischer Stupor«. Die Frau zeigte eine ausgeprägte Flexibilitas cerea, das hieß, eine Erhöhung des Muskeltonus bei passiver Bewegung. Verlagerte man eine Gliedmaße, verharrte sie wie bei einer Schaufensterpuppe an Ort und Stelle. Selbst in schmerzhaften Stellungen... Lisa hatte es selbst ausprobiert.
Inzwischen wusste sie alles über den Körper der Frau.
Erschöpft nahm sie sich einen Moment Zeit, um die Patientin genauer zu untersuchen.
Nicht mit Instrumenten, sondern mittels Einfühlung.
Um sich ein Bild von der Person hinter den Untersuchungsergebnissen zu machen.
Dr. Susan Tunis war eine renommierte Forscherin und stand am Anfang einer großen Karriere. Sie hatte sogar den Mann ihrer Träume gefunden. Abgesehen davon, dass sie seit fünf Jahren verheiratet war, wies ihr Leben große Parallelen zu Lisas Werdegang auf. Ihr Schicksal erinnerte daran, wie gefährdet unser Leben, unsere Erwartungen, unsere Hoffnungen und Träume sind.
Lisa ergriff die Hand der Frau, die auf der dünnen Decke lag, und drückte sie mit ihren behandschuhten Fingern.
Keine Reaktion.
Im Nebenzimmer regten sich die Krankenpfleger, als die Kabinentür der Suite geöffnet wurde. Lisa vernahm Dr. Devesh Patanjalis Stimme. Der Leiter des Forschungsteams der Gilde betrat den Raum.
Lisa ließ Susans Hand los. Surina, Deveshs allgegenwärtiger Schatten, nahm im Vorzimmer in einem Sessel Platz und verschränkte die Hände im Schoß. Die perfekte Begleiterin - und unbedingt tödlich.
Devesh lehnte den Stock neben der Tür an die Wand und trat zu ihr. »Wie ich sehe, haben Sie sich mit Patient null bereits bekannt gemacht.«
Statt zu antworten verschränkte Lisa die Arme vor der Brust. Es war das erste Mal, dass Devesh ernsthaft mit ihr sprach, nachdem er sie selbstständig hatte arbeiten lassen. Die meiste Zeit hatte er bei Henri im Toxikologie-Labor und bei Miller im Labor
für ansteckende Krankheiten verbracht. Lisa hatte sogar allein gegessen, entweder in ihrer Kabine oder hier in der Suite.
»Was ist Ihre Meinung, jetzt, da Sie sich einen Überblick über den Zustand meiner geschätzten Patientin verschafft haben?«
Obwohl er lächelte, spürte Lisa die Drohung hinter seinen Worten.
Sie dachte an die kaltblütige Ermordung Lindholms. Damit hatte er ihr eine Lektion erteilen wollen: Mach dich nützlich! Devesh erwartete von ihr Ergebnisse und Einsichten, die den anderen Forschern entgangen waren. Dass er sie mit der Patientin allein gelassen hatte, diente noch einem anderen Zweck: Er hatte verhindern wollen, dass sie einer vorgefassten Meinung aufsaß.
Devesh wollte, dass sie sich völlig unbeeinflusst ein Bild machte.
Gleichwohl dachte sie an seine Bemerkung, das Virus brüte etwas aus.
Lisa wandte sich zur Patientin um und machte ihren Unterarm frei. Der Krankenakte zufolge hatte sie an den Gliedmaßen Ausschlag und eiternde Geschwüre gehabt. Im Moment wies die Haut keine krankhaften Veränderungen auf. Offenbar brütete das Virus nicht nur etwas aus, sondern stellte noch etwas anderes mit der Kranken an.
»Der Judas-Stamm heilt sie«, sagte Lisa, sich des Umstands bewusst, dass sie einer Prüfung unterzogen wurde. »Oder genauer, das Virus hat sich plötzlich entschieden, den Umwandlungsprozess der körpereigenen Bakterien umzukehren. Aus einem unbekannten Grund hat es begonnen, die zuvor tödlichen Bakterien in den harmlosen Ausgangszustand zurückzuversetzen.«
Devesh nickte. »Die Plasmide, die das Virus in den Bakterien gebildet hat, werden jetzt ausgeschieden. Aber warum?«
Lisa schüttelte den Kopf. Sie wusste es nicht. Jedenfalls war sie sich nicht sicher.
Devesh lächelte, ein eigentümlich warmes, umgängliches Lächeln. »Uns hat das ebenfalls ratlos gemacht.«
»Aber ich habe eine Hypothese«, sagte Lisa.
»Tatsächlich?« Er klang
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