Der Judas-Code: Roman
streckte das Handy Gray entgegen.
»Ist das Direktor Crowe?«, fragte der mit gedämpfter Stimme.
Vigor schüttelte den Kopf. »Sie sollten besser drangehen.«
Gray nahm das Handy und hielt es sich ans Ohr. »Hallo?«
»Ihre Eltern befinden sich in meiner Gewalt.«
8
Patient null
6. Juli, 12:42
An Bord der Mistress of the Seas
Was tat man nicht alles...
Monk stand im Mittschiffsaufzug und balancierte ein Essenstablett auf der flachen Hand. Das Sturmgewehr hatte er geschultert. Aus kleinen Lautsprechern tönte die mit akustischen Instrumenten eingespielte Version eines ABBA-Songs. Der Weg von der beengten Schiffsküche bis zum obersten Deck war so weit, dass er das Lied inzwischen mitsummen konnte.
Erbarmen...
Endlich öffnete sich die Tür und entließ Monk auf den Gang. Er näherte sich einer von Wachposten flankierten Doppeltür. Dabei murmelte er leise vor sich hin, um sein Malaiisch zu üben. Jessie hatte irgendwo ein Färbemittel besorgt, mit dem Monk sich Gesicht und Hände eingerieben hatte, um unter den Piraten, die alle so dunkelhäutig wie der Tote aus Lisas Kabine waren, nicht aufzufallen. Inzwischen hatte er die Leiche diskret über Bord geworfen.
Aus den Augen, aus dem Sinn.
Seine Verkleidung wurde vervollständigt durch ein Kopftuch, das die untere Gesichtshälfte bedeckte.
Man musste mit den Wölfen heulen.
Im Laufe des vergangenen Tages und der Nacht hatte Jessie ihm ein paar malaiische Phrasen beigebracht, denn Malaiisch war die Muttersprache der Piraten. Bedauerlicherweise hatte Monk in dieser Zeit nicht genug gelernt, um sich an dem Kordon der Wachposten vorbeizumogeln, der Lisa abschirmte. Er und Jessie hatten sich auf dem Schiff heimlich umgesehen und festgestellt, dass die
Wissenschaftler und deren Mitarbeiter alle auf einer Ebene versammelt waren, während das medizinische Personal sich um die im ganzen Schiff verteilten Kranken kümmerte.
Lisas Physiologiekenntnisse waren nicht unbemerkt geblieben. Sie war in einem streng bewachten und gesicherten Wissenschaftsflügel isoliert. Zur Bewachung war die Elite der Piraten abgestellt worden, befehligt von einem tätowierten Maori namens Rakao. Der Funkraum war nicht minder schwer bewacht. Jessie, der fließend Malaiisch sprach, hatte sich unter die Piraten gemischt und auf diese Weise eine Menge in Erfahrung gebracht.
Monk hatte sich notgedrungen darauf beschränkt, ihm zuzuarbeiten. Viel mehr konnte er nicht tun. Selbst wenn er in John-Wayne-Manier in den Wissenschaftsflügel gestürmt wäre, hätte er Lisa wohl kaum befreien können. Wohin hätten sie sich auch wenden sollen? Die Mistress of the Seas befand sich inmitten der indonesischen Inseln. In einem Labyrinth kleiner Atolle, zwischen tausend dschungelbewachsenen Fingern, die himmelwärts zeigten. Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, zu einer der Inseln zu schwimmen, hätte man sie mühelos wieder einfangen können.
Jedoch nur dann, wenn die Tigerhaie sie unbehelligt ließen.
Deshalb spielte Monk auf Zeit.
Das hieß jedoch nicht, dass er die Hände in den Schoß legen musste.
Zum Beispiel konnte er das Mittagessen servieren.
Es war ein guter Plan. Er musste Kontakt zu Lisa aufnehmen. Um ihr zu zeigen, dass sie nicht allein war, vor allem aber um ihre weitere Vorgehensweise zu koordinieren. Und da er nicht direkt mit ihr in Kontakt treten konnte, war er auf einen Mittler angewiesen.
Monk hatte die Doppeltür erreicht. Er zeigte den Wachposten das Tablett und murmelte auf Malaiisch etwas Ähnliches wie »die Essensglocke hat geläutet«.
Einer der Männer drehte sich um und klopfte mit dem Gewehrkolben gegen die Tür. Kurz darauf wurde die Tür von innen geöffnet. Nach einem prüfenden Blick winkte der zweite Wachposten ihn in die Präsidentensuite durch.
Ein befrackter Butler trat Monk entgegen. Er wollte ihm das Tablett
abnehmen, doch Monk, ganz in der Piratenrolle aufgehend, knurrte etwas auf Malaiisch und rempelte ihn mit der Schulter an. Der Butler taumelte mit wedelnden Armen zurück, worauf der Wachposten an der Tür glucksend lachte.
Monk betrat den Hauptsalon der Suite. Eine von einem Liegestuhl auf dem Balkon aufsteigende Rauchwolke geleitete ihn ans Ziel.
Auf dem Liegestuhl räkelte sich Ryder Blunt in Morgenmantel und geblümter Badehose, die Beine übereinandergeschlagen, der blonde Haarschopf ungekämmt. Er qualmte eine dicke Zigarre und betrachtete die langsam vorbeiziehenden Inseln. Die Rettung war nah und doch so fern. Passend zu seiner finsteren
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