Der Judas-Code: Roman
aufgetreten ist. Aber ich kenne die Gilde. Ich weiß, was sie vorhat. Sie beabsichtigt, den Krankheitserreger zu isolieren und auf der Basis des Virus ein unerschöpfliches Reservoir neuartiger Biowaffen zu entwickeln.«
Als Seichan die Krankheit detaillierter schilderte, krampfte Gray die Hände um die Tischplatte, bis die Knöchel schmerzten. Ganz neue Ängste wurden in ihm wach.
Ehe er etwas sagen konnte, räusperte sich Vigor. »Aber wenn der wissenschaftliche Arm der Gilde das Virus bereits untersucht, wieso ist die Verfolgung von Marco Polos historischer Fährte dann so wichtig? Warum sollten wir uns überhaupt darum kümmern?«
Gray zitierte die letzte Zeile aus Marcos Text: »›Eine dunkle Kraft, die uns alle rettete.‹ Damit könnte ein Heilmittel gemeint sein.«
Seichan nickte. »Marco hat überlebt und seine Geschichte erzählt. Nicht einmal die Gilde würde es wagen, ein solches Virus freizusetzen, ohne es beherrschen zu können.«
»Oder ohne nach dessen Ursprung zu forschen«, setzte Gray hinzu.
Vigor blickte auf die Stadt hinaus, das Gesicht als dunkle Silhouette von der Sonne abgehoben. »Es gibt noch weitere unbeantwortete Fragen. Was ist aus Pater Agreer geworden? Wovor hatte der Papst Angst?«
Gray trieben im Moment ganz andere Fragen um. »Wo genau ist die Krankheit in Indonesien ausgebrochen?«
»Auf einer Insel, die zum Glück fernab der dicht besiedelten Gebiete liegt.«
»Auf der Weihnachtsinsel«, sagte Gray.
Seichans Augen weiteten sich.
Das genügte ihm als Bestätigung.
Gray stand auf. Alle musterten ihn verblüfft. Monk und Lisa waren zur Weihnachtsinsel geflogen, um genau diese Krankheit zu untersuchen. Sie hatten keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten - und wussten auch nicht, dass die Gilde sich dafür interessierte. Gray atmete schwer. Er musste mit Painter sprechen. Aber würde er seine Freunde nicht noch mehr gefährden, wenn Sigma eingeschaltet wurde? Würden sie dann nicht erst recht zu Zielscheiben werden?
Er musste zunächst mehr in Erfahrung bringen. »Wie lange ist die Gilde schon in Indonesien vor Ort?«
»Das weiß ich nicht. Es war nicht leicht, an die Informationen heranzukommen.«
»Seichan«, knurrte Gray.
Ihre Augen verengten sich vor Besorgnis. In seiner Erregung hätte er ihr die Gefühlsregung beinahe abgenommen. »Ich... ich weiß es wirklich nicht, Gray. Warum fragen Sie? Was ist los?«
Gray ließ den Atem entweichen und trat ans Geländer. Er musste erst einmal nachdenken und das Gehörte verarbeiten.
Im Moment wusste er nur eines.
Er musste mit Washington reden.
01:04
Washington, D. C.
Harriet Pierce bemühte sich, ihren Mann zu beruhigen. Das war nicht leicht, denn er hatte sich im Bad des Hotelzimmers eingeschlossen. Sie drückte sich ein feuchtes Tuch auf die aufgesprungene Lippe.
»Jack! Mach die Tür auf!«
Vor zwei Stunden war er verwirrt und desorientiert aufgewacht. Das war schon häufiger vorgekommen. Sonnenuntergangssyndrom nannte man das. Bei Alzheimer-Patienten trat es häufig auf. Nach Sonnenuntergang, wenn die vertraute Umgebung verblasste, gerieten sie in einen Erregungszustand.
Und hier, in dem unbekannten Hotelzimmer, war es besonders schlimm.
Dass das Phoenix Park Hotel schon ihre zweite Unterkunft in weniger als vierundzwanzig Stunden war, machte es auch nicht besser. Erst waren sie in Dr. Corrins Wohnung gewesen, und jetzt hier. Beim Abschied hatte Gray ihr eindringlich eine Anweisung ins Ohr geflüstert. Als Dr. Corrin gegangen war, hatte er ihr gesagt, sie solle sich auf der anderen Seite der Stadt unter falschem Namen ein Hotelzimmer nehmen und in bar bezahlen.
Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme.
Die ganze Herumfahrerei aber hatte Jacks Zustand nur verschlimmert. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er kein stimmungsstabilisierendes Tegetrol mehr eingenommen. Und er hatte kein Propranolol mehr, ein Blutdruckmittel, das seine Angstzustände milderte.
Somit war es kein Wunder, dass Jack voller Panik und desorientiert aufgewacht war. So schlecht war es ihm seit Monaten nicht mehr gegangen.
Sein Geschrei und sein Gepoltere hatten sie geweckt. Sie war im Sessel vor dem kleinen Fernseher eingenickt. Es lief ein Nachrichtensender. Den Ton hatte sie gerade so laut gestellt,
dass sie Grays Namen mitbekommen hätte, wenn er erwähnt worden wäre.
Vom Geschrei ihres Mannes wach geworden, eilte sie ins Schlafzimmer. Ein dummer Fehler. Einen Alzheimer-Kranken durfte man in diesem Zustand nicht erschrecken. Jack schlug um
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