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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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hundertvierzig Jahren Verletzungen an der Wirbelsäule? Er dachte an das Tagebuch des Messdieners. Judas war der Stachel im Fleisch Jesu, wie es Pater Dorn in der gottlosen Kirche war. Ein Stachel! Und wenn der Vergleich nun nicht bildlich gemeint war? Wenn dieser Stachel tatsächlich existierte?
    »Alex, was ist los?« Sabriskis Stimme klang beunruhigt.
    »Alles hängt miteinander zusammen.« Körner leuchtete mit der Kerze die Sitzlehne der Küchenbank ab. Falls er Recht behielt, musste es auch hier irgendwo sein. Er schirmte die Flamme mit der Hand ab, um sie ruckartig freizugeben, damit die Strahlen auf die Bank fielen. Da bemerkte er das Aufblitzen im Holz, als krümme sich das Licht um einen bestimmten Punkt.
    »Hier!« Er bohrte den Finger in eine weiche Stelle im Holz. »Das gleiche Phänomen, das Philipp und ich gestern Abend entdeckt haben.«
    Er reichte Sabriski die Kerze, schob den Tisch zur Seite, packte die Sitzbank an der Kante und riss sie von der Wand. Die Schrauben knirschten in den Dübeln, Staub rieselte aus den
    Mauerlöchern. Er rüttelte an der Bank, bis er sie vollständig von der Wand gelöst hatte. Dahinter befand sich ein faustgroßes Loch im Ziegelwerk, dessen Ränder mit braunem, krustigem Schleim verklebt waren.
    »Ich verstehe das nicht«, jammerte Sabriski. Ihre Hand mit der Kerze zitterte.
    »Noch begreife ich es ebenso wenig.« Körner stürzte aus der Küche zur Abstellkammer. Er riss alle Schränke und Schubladen auf, bis er einen Werkzeugkasten fand. Mit einem Hammer kam er in die Küche zurück. Ohne Zögern holte er aus und ließ den Hammer gegen die Ziegel krachen. Risse durchzogen den Verputz. Der Mörtel staubte von der Wand, Körners Hände und Gesicht waren bereits weiß. Immer wieder schlug er auf die Wand ein, bis er einzelne Ziegel herausbrechen konnte. Das Loch war bald so groß, dass er den Kopf in den Hohlraum stecken konnte. Stromkabel und Wasserrohre aus dem oberen Stockwerk verliefen in der Wand. Aus der Tiefe stieg ein penetranter Gestank, der einer Mischung aus Kloake und Schwefel glich.
    »Die Kerze!«, befahl er Sabriski.
    Sie reichte ihm den brennenden Stummel, den er in das Mauerloch führte. Die Wände schimmerten in braunem Glanz, als wären sie mit dickem, kokonartigen Schleim überzogen. Als er die Kerze drehte, tropfte das heiße Wachs ab. Von unten drang ein schmatzendes Geräusch herauf. Körner streckte den Arm tiefer und beugte den Kopf in das Loch, um einen Blick nach unten zu werfen. In der Finsternis bewegte sich etwas, doch der Kerzenschein reichte nicht aus, um es deutlich zu erkennen. Silbergraue wellenartige Schatten, als brodelten Dutzende unendlich lange Gliedmaßen in der Erde. Da schien sich das Mauerwerk um Körners Kopf zusammenzuschieben. Der Hohlraum verformte sich und begann wie lebend zu pulsieren. Grauenvolle Kopfschmerzen bohrten sich durch Körners Stirn. Die Kerze fiel ihm aus der Hand. Noch bevor sie am Boden aufschlug, erlosch die Flamme. Von unten drangen qualvolle Geräusche herauf. Etwas raste an der Wand empor. Körner riss den Kopf aus dem Mauerloch und taumelte zurück.
    Sein Atem rasselte, Schweiß stand ihm auf der Stirn.
    »Alex!« Sabriski legte ihm beschützend die Hände auf die
    Wangen, zog sie jedoch sofort zurück. Entsetzt starrte sie auf ihre dunkelroten Handflächen.
    Körner spürte, wie ihm warmes Blut aus den Ohren lief. Er stützte sich auf der Fensterbank ab und starrte durch die Scheibe. »Eine Minute Pause«, keuchte er, den Blick auf die menschenleeren Felder gerichtet. Wohin waren die Bauern verschwunden? Niemand stand neben der Scheune, um die Säcke mit dem Kunstdünger auf die Ladefläche des Pritschenwagens zu hieven. Kühle Luft strich ihm über die Wange. Da bemerkte er, dass Maria den Innenflügel des Küchenfensters nicht geschlossen hatte, als sie die Lebensmittel auf dem Sims verstaut hatte. Die Bauern mussten sein Hämmern gehört haben - und nun waren sie verschwunden!
    Im gleichen Augenblick donnerte das Getrampel mehrerer Stiefel durch das Treppenhaus.
    Körner packte Sabriski am Arm. »Schnell, raus hier!«
    Da splitterte der Rahmen, die Tür flog auf und eine Hand voll Männer in Gummistiefeln und grauen Overalls stürzte in die Küche. Sofort wurden Körner und Sabriski umringt. Er konnte sie noch rechtzeitig hinter sich schieben, als ihn der Stiel eines Spatens an der Schläfe traf.
     
    26. Kapitel
     
    Körner öffnete die Augen. Zunächst war alles verschwommen, doch rasch nahmen

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