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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Vergangenheit erzählen.« Mit einer abfälligen Geste deutete er auf Körner. »Ihre Sturheit liegt wohl in der Familie, denn Ihr Vater war genauso aufsässig wie Sie. Er wehrte sich verzweifelt, wollte nicht, dass sein kleiner Sohn ebenfalls Teil der kosmischen Wahrheit wird, ein Kind der Schwarzen Ziege mit den Tausend Jungen, wie wir sie nennen. Ihre Mutter hingegen war eine echte Einheimische, demütig, tief verwurzelt mit der Geschichte unseres Dorfes, anders als Ihr Vater. Es kam zum Handgemenge. Was hätten wir anderes tun sollen? Ihr Elternhaus wurde angezündet, es brannte nieder, wie über hundert Jahre zuvor schon unsere Kirche. Alles trug sich knapp vor Ihrem vierzehnten Geburtstag zu, nicht wahr?« Weißmann presste Daumen und Zeigefinger zusammen. »Sie entkamen nur so knapp der Einpflanzung. Haben Sie je darüber nachgedacht?«
    »Schaben damals den Brand gelegt!«, wisperte Körner fassungslos. Als es ihm dämmerte, wurde seine Stimme fast lautlos. »Sie haben meine Eltern ermordet!«
    Aber Weißmann hatte ihn gehört. »Endlich haben Sie es begriffen. Sie hätten bei der Schwester Ihres Vaters in Wien bleiben und nie wieder in diesen Ort zurückkehren sollen. Aber nein, Sie mussten ja in unserer Vergangenheit herumschnüffeln. Ihre Mutter - Gott hab sie selig - hätte sich nie mit diesem Wiener einlassen dürfen. Verstehen Sie? Wir im Ort müssen unter uns bleiben.« Weißmann keuchte. Er kam so nahe an Körners Gesicht heran, dass Körner die wie im Fieber glänzenden Augen unmittelbar vor sich sah. »Aber hin und wieder muss frisches Blut dazu; eine Erbkrankheit hat sich in unseren Ort eingeschlichen, eine Schädigung der DANN entwickelt, die sich nicht mit dem Serum verträgt.«
    »Sie reden von Knochenmarkkrebs«, vermutete Körner. »Durch Inzucht erhöht sich das Vererbungsrisiko, wie bei den Krajnikgeschwistern.«
    Weißmann sprang vom Stuhl und stapfte durch den Raum. »Die Metastasen im Rückenmark sind Gift für das Gezücht! Wir bemerkten es zuerst 1999, zwei Jahre später noch einmal. Etwas ging schief. Die Kinder wurden förmlich vor unseren Augen zerfetzt.« Er riss die Arme auseinander. Seine Stimme überschlug sich.
    »Wir konnten die ersten beiden Unfälle vertuschen. Das alles sollte nicht noch einmal passieren. Die Einpflanzung der jüngsten Krajniktochter wurde im Morgengrauen in der Bar unter dem
    Beisein einiger Ortsbewohner vollzogen. Wir sagten der Kleinen, sie müsse an ihrem Geburtstag nicht zur Schule gehen und führten sie nach dem Frühstück direkt in die Diskothek, wo die anderen auf sie warteten. Martin Goisser wusste, Sabine würde die Saat erhalten. Irgendwie ahnte der Bengel, dass es bei ihr genauso schief gehen würde wie bei ihren Geschwistern. Wir wissen nicht, wie dieses Muttersöhnchen dahinter gekommen ist, und jetzt sagen Sie mir endlich, wie Sie hinter unser Geheimnis kamen?« Weißmann holte aus und schlug Körner ins Gesicht.
    Körners Kopf flog zur Seite, sodass die Nackenwirbel knirschten. Dabei konnte er einen Blick auf den Küchentisch erhaschen. Das in Leder gebundene Tagebuch lag noch immer dort. Bestimmt hielt es der Bürgermeister für ein Koch- oder Haushaltsbuch.
    Während Weißmann weitersprach, umkreiste er Körner. »Der Dreikäsehoch hat die Zeitung angerufen, uns eine Reporterin auf den Hals gehetzt, und im Nu hat es am Dorfplatz von Polizisten gewimmelt.«
    In Körners Mund sammelte sich Blut. Er spuckte es kraftlos aus, sodass ihm rote Fäden vom Kinn hingen. Da hörte er ein wimmerndes Geräusch aus dem Wohnzimmer. Stammte es von Sabriski? Hatte ihr der Dorfarzt tatsächlich zwölf Milligramm Valium injiziert? »Weshalb macht ihr kranke Experimente mit Vierzehnjährigen?«
    »Nicht nur an Vierzehnjährigen, ab vierzehn ist jeder Teil der Wahrheit«, korrigierte ihn Weißmann. »In der Pubertät ändert sich der Hormonhaushalt des Körpers. Die Hirnanhangdrüse steuert die Produktion der Keimdrüsen: Testosteron bei den Buben, Progesteron bei den Mädchen. Keine Experimente, Körner - das ist Evolution! Das Wesen ist richtiggehend süchtig danach. Wir konnten die kleine Krajnik gar nicht mehr an das Gestell schnallen, weil der Fangarm wild herausfuhr und sich regelrecht in ihren Körper bohrte.«
    Wovon redete Weißmann? Wieder hörte Körner das Seufzen aus dem Nebenzimmer, doch er ignorierte es. Er konzentrierte sich auf Weißmann. »Welches Wesen? Woher kommt es? Was tut es?« Als er sich selbst reden hörte, glaubte er sich

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