Der Judas-Schrein
wäre schon vor einer Stunde hier fertig gewesen, doch Ihre Ermittlerkollegen und der Rot-Kreuz-Fahrer sagten mir, der Wagen dürfe erst fahren, wenn Sie mit mir gesprochen haben. Sie hätten ja auch mit dem Notarzt reden können, doch der Bursche weiß nicht mal, wie man eine Spritze setzt. Wo haben Sie den bloß aufgegabelt?« Demonstrativ blickte er auf die Armbanduhr. »Nun, jetzt haben Sie ja endlich die Zeit gefunden, sich zu mir zu bequemen. Es gibt nichts zu sagen: Die Frau braucht Ruhe, das ist alles. In der Ordination wartet genug andere Arbeit auf mich, und ich habe Kopfschmerzen. Das verdammte Wetter!« Er kniff die Augen zusammen und massierte sich die Schläfen.
Körner bemerkte die abgezogenen Folien, die auf dem Boden verstreut lagen. »Was haben Sie ihr gegeben?«
»Je ein Milligramm Haldol. Das war schon die sechste Injektion. Sie ist erst jetzt ruhig geworden. Sonst noch was?«
Die Reporterin wippte nach vorne und zurück und starrte dabei immer noch zur Deckenlampe. Unter dem Kopfkissen lugte ein Blatt Papier hervor.
»Was ist das?«
Doktor Weber kramte den Zettel raus. »Sie wollte sprechen, brachte aber keinen Ton heraus - die Wirkung des Schocks. Sie erwischte das Fahrtenbuch und schmierte das auf ein Blatt Papier.« Der Arzt reichte ihm die Zeichnung.
»Als sie ihre eigene Zeichnung sah, regte sie sich dermaßen auf, dass ich ihr das Blatt wegnehmen musste.«
Körner betrachtete das Bild. Der Zettel war zerknüllt, die Tinte des Kugelschreibers verwischt. Undeutlich war eine Person auf der Zeichnung zu erkennen: ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Durch die ausgebreiteten Arme des Mädchens gewann das Motiv etwas Religiöses. Eine wirre Kritzelei stellte den Hintergrund des Bildes dar. Körner wusste, was sie bedeuten sollte. Ihm rieselte ein Schauer über den Rücken. Er selbst hatte das düstere Eisengestell in der Bar gesehen. Die Seile und Flaschenzüge waren auf der Zeichnung nur angedeutet, aber mit etwas Phantasie konnte man sogar die Lederriemen erkennen. Mehr war nicht zu sehen. Kein Hinweis! Kein Mörder! Doch er war sich sicher, dass sie den Täter gesehen hatte, denn auf dem Bild sah das Mädchen aus, als sei es noch am Leben. Die Kritzelei zeigte die letzten Sekunden vor ihrem Tod.
»Ich behalte das Bild.« Körner faltete die Zeichnung zusammen.
»Gern. Sie entschuldigen mich?« Der Arzt stand auf und drängte sich an Körner vorbei.
Wenigstens hatte er eine Augenzeugin, auch wenn sie im Moment nicht vernehmungsfähig war. Das würde sich innerhalb der nächsten Tage ändern, möglicherweise schon heute Abend. Er besprach einige Details mit dem Fahrer und fand aus dem Neunkirchener Team einen Gendarmen, der die Journalistin auf ihrer Fahrt nach Kierling begleitete. Der Notarzt wechselte in den Ambulanzbereich, und Körner sah dem Krankenwagen zu, wie er am Dorfplatz wendete. Die Beamten schoben die Absperrung beiseite und ließen das Fahrzeug passieren. Mit Blaulicht verschwand es im Regen.
Körner stand wieder unter dem Vordach der Diskothek, als Berger keuchend zu ihm lief und berichtete, was sie in Erfahrung gebracht hatte.
»Sabine Krajnik wäre heute vierzehn Jahre alt geworden. Das neue Schuljahr hat gerade begonnen, sie ging in Neunkirchen in die vierte Klasse der Sporthauptschule. Der Unterricht beginnt um acht Uhr. Für gewöhnlich nahm sie den Schulbus um fünf Minuten nach sieben, der fünfzig Minuten später in Neunkirchen ankommt. Die Haltstelle ist am Dorfende gegenüber der Tankstelle.« Berger nickte die Straße hinunter, die sie in den Ort gebracht hatte. »Ach ja, die Tankstelle ist übrigens geschlossen, weil Toni, der Tankwart, als freiwilliger Helfer am Deich arbeitet. Die Einwohner bereiten sich auf ein Hochwasser vor.«
»Was noch?«
Berger blätterte in ihrem Block. »Sabine Krajnik hatte wenige Freunde im Ort. Sie war weder Mitglied im Kirchenchor noch in einem der ortsansässigen Vereine und kellnerte auch in keinem der Heurigen, wie es für die Mädchen in ihrem Alter üblich ist. An den Wochenenden traf sie sich gelegentlich mit Schulfreunden in Neunkirchen, dort müssten wir nachhaken. Außerdem gibt es in dem Ort nur einen Jungen, zu dem sie näheren Kontakt hatte, doch unser Dorfpolizist weiß nicht, wie er heißt.«
»Heiße Spur!« Körner verzog spöttisch das Gesicht. »Die Eltern?«
»Der Vater ist Metzger, die Mutter Hausfrau. Sie ist berühmt für ihre Kekse und
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