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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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gesehen hat, aber es muss schrecklich gewesen sein. Möglicherweise hat sie den Mörder gesehen, aber der Mörder hat bestimmt auch sie gesehen.«
    Körner wusste, worauf der Junge hinauswollte. »Wir stellen Ihre Kollegin nicht unter Polizeischutz, das ist nicht notwendig. Aber wenn es Sie beruhigt, wird ein Gendarmeriebeamter im Wagen mitfahren. Wenn sie unter Schock steht, bringen wir sie in das Nervenkrankenhaus nach Kierling. Das ist sowieso eine abgeschlossene Anstalt, aber zur Sicherheit können wir einen Beamten vor der Tür postieren. In Ordnung?«
    Der Junge nickte. Körner merkte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Eine Hand wäscht die andere. Vielleicht hatte der Bursche die Lektion gelernt und würde demnächst freiwillig mit der Kripo zusammenarbeiten. Er ließ ihn allein im Regen stehen und marschierte um den Wagen herum. In der Fahrerkabine saßen ein junger Mann mit Brille und ein Rot-Kreuz-Helfer, der seine Zeitung über dem Lenkrad auseinander faltete. Der Notarzt und sein Fahrer, zwei Grünschnäbel - das konnte was werden! Körner dachte an die Journalistin. Scheiße! Seine einzige Augenzeugin stand unter Schock und konnte nicht reden. Er musste sie zum Reden bringen, auch wenn es nur für eine Minute war. Das würde den Fall innerhalb weniger Stunden lösen, und er konnte aus diesem Ort abhauen. Er hatte Fälle erlebt, bei denen Kripobeamte drei Wochen in einem Ort festhockten. So etwas hätte ihm gerade noch gefehlt.
    Die beiden Hecktüren des Krankenwagens standen nach wie vor offen. Auf der Liege saß die Frau mit dem schwarzen Lockenschopf, bis zum Kinn in eine karierte Steppdecke eingehüllt. Körner schätzte sie auf Anfang dreißig. Die Reporterin hatte ein schlankes, attraktives Gesicht und wirkte auf den ersten Moment nicht wie ein schüchternes Mädchen, sondern wie eine selbstbewusste und schlagfertige Frau, die wusste, was sie wollte.
    Einzig der Ausdruck ihrer Augen passte nicht dazu - der abwesende Blick verlor sich an der Decke des Wagens. Sie starrte mit aufgeklapptem Mund ins Licht und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Worte waren es nicht einmal, es klang eher nach einem monotonen Singsang, als wolle sie ein Baby beruhigen.
    Körner stützte ein Bein auf die ausgeklappte Treppe und reckte den Oberkörper ins Wageninnere, um nicht nass zu werden. Der Regen pochte eintönig auf das Wagendach. »Was hat sie gesagt?«
    »Nichts.« Der Arzt, der vor der Liege auf einem Hocker saß, packte die leeren Ampullen weg, ohne weiter auf Körners Frage einzugehen.
    War das der Dorfarzt, den Jana Sabriski zuvor erwähnt hatte? Aus Erfahrung wusste Körner, dass Apotheker und Landdoktoren nur ungern mit Kripobeamten zusammenarbeiteten, weil sie neben den Gerichtsmedizinern ständig die zweite Geige spielten, von ihnen herumkommandiert wurden und bloß den Papierkram erledigen durften. Hier war es nicht anders. Der Mann fungierte als Leichenbeschauer, stellte Sabine Krajniks Totenschein aus und durfte sich anschließend um die geschockte Augenzeugin kümmern. Ein undankbarer Job, aber so war es nun mal, wenn Leichen auftauchten.
    Der Arzt trug einen ausgewaschenen Pullover, ein kariertes Hemd und eine ausgeblichene Flanellhose, so, als sei er direkt vom Frühstückstisch eines Männerheims geholt worden. Auf dem Aluminiumkoffer, der neben der Liege stand, las Körner den Namen des Arztes.
    »Kann ich mit der Frau sprechen, Doktor Weber?«
    Der Arzt blieb unbeeindruckt. Er schüttelte den Kopf. Nachdem er seine Utensilien voll stoischer Ruhe im Koffer verstaut hatte, bedachte er Körner mit einem forschenden Blick. Die Statur des Mannes und seine Bewegungen wirkten jugendlich, doch in seinen Augen sah Körner, dass er schon über fünfzig sein musste. Er hatte kantige Gesichtszüge und ein vernarbtes Gesicht, die Folgen pubertärer Akne, die er niemals wegbekommen würde. Das dichte Haar war kurz geschnitten und stand ihm in wirren Büscheln vom Kopf ab, doch irgendwie sah er damit sogar lässig aus - zumindest hätte Harrison Ford für diese Frisur zwei Stunden im Schminkraum sitzen müssen.
    »Die Frau ist nicht vernehmungsfähig, sie braucht Ruhe.« Der Arzt presste die Lippen aufeinander.
    »Ich muss mit ihr sprechen, ich brauche nur eine Minute.«
    »Vergessen Sie es. Keine Chance!« Doktor Weber erhob sich und wollte den Wagen verlassen, doch Körner wich nicht von der Stelle.
    Der Arzt fixierte Körner. »Was wollen Sie von mir?« Er setzte sich wieder hin. »Hören Sie! Ich

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