Der Judas-Schrein
Kripobeamten einfacher.
»Kein Wunder, dass Sabine nicht dem Greiner Kirchenchor beitreten wollte«, kommentierte Berger, als sie die Poster betrachtete. »Kein Song von Marilyn Manson wäre jemals bei der Abendmesse gesungen worden.«
Körner schmunzelte, hob das Poster an und blickte dahinter. Auf der Tapete prangten helle Flecken vom Ausmaß zehn mal fünfzehn Zentimeter. Darüber sah er Löcher, die von Nägeln rührten.
»Fotos?«, fragte Berger, die ihm gegenüber stand und ebenfalls hinter das Poster lugte.
»Bestimmt. Die Frage lautet bloß, was die Bildern zeigten?«
Sie reichte ihm ein gerahmtes Foto, das sie auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Ein rotbrauner Setter war darauf zu sehen.
»Jimbo kennen wir bereits.« Basedov hatte ihn sogar auf einigen Tatortfotos verewigt.
Neben dem Hund saß ein etwa zwölfjähriges Mädchen im Schneidersitz im Gras und lachte in die Kamera.
»Hübsch, die Kleine, nicht wahr?«
Körner nickte. Sabine war braungebrannt, trug einen gelben Bikini und hatte das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine schmale Sonnenbrille saß auf der von Sommersprossen übersäten Nasenspitze, sodass sie frech über den Brillenrand linste.
Körner stellte das Foto zur Seite. »Ihre Eltern sagten, sie sei gegen sieben Uhr mit der Schultasche zum Bus gegangen.« Er deutete in die Zimmerecke. »Die Tasche steht dort.«
Berger öffnete die wuchtige Tragetasche und warf die Schulsachen aufs Bett. »Biologie-, Deutsch- und Mathematikbücher, ein Federpennal und ein Turnbeutel.« Sie zog den Stundenplan aus einem Seitenfach. »Die Schultasche ist für Montag gepackt. Es stehen zwei Stunden Turnen auf dem Plan.« Sie zog die Schnur des Stoffbeutels auf und hielt die Nase hinein. »Die Wäsche ist frisch. Am Freitag und Dienstag gibt es kein Turnen.«
An Bergers Blick erkannte er, dass sie das Gleiche dachte wie er. Sabine wollte an ihrem Geburtstag in die Schule fahren. Ohne die bereits gepackte Schultasche wäre sie also nicht außer Haus gegangen. Er setzte sich aufs Bett und stützte das Kinn auf die Hände. »Was können Sie mir über den Mörder sagen?«
»Der Mörder …« Sie schielte nach oben. »Also, wenn ich den Tathergang gedanklich rekonstruiere, komme ich zu folgenden Fähigkeiten und Kenntnissen, die der Täter haben müsste. Die Fakten sind, dass …«
»Kein Geschwätz von der Polizeischule!«, unterbrach er sie. »Sie halten keinen Vortrag an der Universität. Vergessen Sie die Fakten! Aus dem Bauch heraus: Erzählen Sie mir etwas über den Mörder, jetzt!«
»Er muss handwerklich geschickt sein«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Warum?«
»Weil er mit Eisen und Leder arbeiten kann und etwas von Flaschenzug-Konstruktionen versteht. Vielleicht ist er Mechaniker, Bauarbeiter oder Monteur.«
»Gut, weiter!«
»Möglicherweise besitzt er eine Pornographie-Sammlung mit Schwerpunkt Fesselungen und Sadomasochismus.«
»Weiter! Versetzen Sie sich in das Mädchen! Versetzen Sie sich an den Tatort!«
Sie schloss die Augen. »Der Mord wurde um acht Uhr morgens verübt. Unser Täter ist kein Nachtmensch, sonst hätte er um drei oder vier Uhr früh zugeschlagen. Ich würde sagen Portiere, Fernfahrer, Kellner oder Taxilenker mit Nachtschichten scheiden aus. Sabine war keine gesellige Person, sie flüchtete sich in ihre vier Wände und vermied jeden Kontakt zu den Dorfbewohnern. Was selten zu sehen ist, wird begehrenswert. Unser Mörder muss sie beobachtet haben. Sie war das unauffällige Mädchen, wenn sie an den Wochenenden zu Hause war, wo sie malte und Gitarre spielte, hingegen eine modern gekleidete und hübsch geschminkte junge Dame, wenn sie zur Schule ging, sich mit ihren Freundinnen traf und über Popmusik plauderte. Diesen Moment wartete unser Mörder ab: Montagmorgen! Knapp nach dem Ende der Sommerferien. Er wusste, um welche Uhrzeit sie das Haus verließ, in welche Richtung sie das Haus verlassen würde und wann der Bus ging. Er wusste, dass heute ihr Geburtstag war, denn an diesem Tag war sie besonders reizvoll. Doch …«
Sie stutzte und runzelte die Stirn. »Er muss ihr vorher aufgelauert haben, denn sie hätte das Haus nicht ohne Schultasche verlassen, und die ist noch hier. Eventuell lauerte er ihr im Haus auf, jedenfalls wusste er, wo sie wohnte. Er lockte sie in die Bar, zu der er womöglich einen Schlüssel besitzt. Doch dort wurde er von dem Pressefotografen und dieser Reporterin überrascht. Zweifellos sah ihn die Reporterin. Er konnte
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