Der Judas-Schrein
Schultasche. Einer plötzlichen Eingebung folgend zog sie den seitlichen Zippverschluss auf. Ein Nokia-Handy und ein quadratisches blaues Buch, ähnlich einem Poesiealbum, purzelten heraus. »Sehen Sie doch.«
»Das Handy nehmen wir mit«, entschied Körner. »Checken Sie die Simkarte nach den gespeicherten Nummern, finden Sie die entsprechenden Adressen, und prüfen Sie die Anrufe und Uhrzeiten der letzten vier Tage!«
Berger ließ das Handy im Parka verschwinden. »Und das hier?« Sie hielt das Büchlein hoch.
Körner betrachtete es. »Ein verschließbares Tagebuch.« Er nahm ein Schweizermesser aus der Hosentasche und klappte eine schmale Klinge aus.
»Was soll das werden?«, fuhr Berger ihn an.
Er stocherte mit der Klinge im Schloss und brach es auf. »Wonach sieht es denn aus?«
»Nach Sachbeschädigung …«
»Wollen Sie einen Durchsuchungsbefehl vom Staatsanwalt abwarten? Vielleicht liefern uns die Aufzeichnungen einen Hinweis auf ihren Mörder.« Er reichte ihr das geöffnete Buch. »Lesen Sie es.«
»Ich kenne Sie nicht wieder.«
Körner blickte gedankenverloren durch das Fenster. Der Wind peitschte den Regen gegen die Scheibe, nur trüb war das Dach des Schlachthofs zu erkennen. Die Tropfen explodierten auf dem Wellblech, und das Wasser schoss im Höllentempo über die Regenrinne.
»Wir umgehen ein paar bürokratische Hürden. Ich möchte den Fall so rasch als möglich abschließen.« Ohne weiteren Kommentar ging er aus dem Zimmer. Als er im Türrahmen stand, wandte er sich um. »Hören Sie sich im Ort um. Sprechen Sie mit den Freunden, Nachbarn und Verwandten der Krajniks. Lassen Sie sich deren Alibis und Aufenthaltsorte geben. Stellen Sie Recherchen über Sabines Eltern an: Freunde, Feinde, Beziehungen, Vorlieben, eventuelle Spielschulden, und was sie in den letzten drei Jahren getrieben haben, außer Kühe zu schlachten und Kardinalschnitten zu backen. Übrigens möchte ich wissen, ob die Eltern tatsächlich miteinander verwandt sind.« Er steckte die Hand in die Manteltasche und klimperte mit dem Autoschlüssel.
»Wohin gehen Sie?« Berger starrte ihn perplex an.
»Ich fahre nach Wien, wir sehen uns am Abend auf dem Revier. Ich halte es hier nicht länger aus.«
Sie sprang auf. »Wie komme ich zurück, ich habe keinen Wagen.«
»Oh, tut mir Leid.« Er massierte sich die Schläfe. »Die Gendarmen sind sicher noch länger mit der Spurensuche beschäftigt. Ich sage denen Bescheid. Einer von ihnen soll Sie nach Wien fahren, in Ordnung?«
Er ließ sie allein im Zimmer zurück und verließ das Haus.
5. Kapitel
Der schwarze Audi raste durch den Ort, legte sich wie ein Panther in die Kurven und zischte durch die Regenlachen. Er preschte an der Bushaltestelle und dem Ortsschild vorbei und raste auf die Brücke zu, die sich über die Trier spannte.
Die Szene, die sich Körner bot, war kaum wieder zu erkennen. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und drehte den Lautstärkeregler des Decks leiser, in dem eine CD von Alan Parsons Project lag. Jetzt tummelten sich noch mehr Leute auf der Brücke und dem Deich als am Vormittag. Ein Feuerwehrwagen stand neben der Brückenauffahrt, einige Feuerwehrleute in blauen Uniformen und gelben Helmen stapften in Gummistiefeln über den Hang zur Deichkrone und hielten weiße Latten in den Fluss. Unter den Dutzenden freiwilliger Helfer, die mit den Feuerwehrmännern den Damm entlangschritten und Markierungen setzten, bemerkte Körner den weißen Haarkranz des Bürgermeisters. Bring deine Schäfchen ins Trockene, dachte er ironisch.
Als Körner mit dem Wagen langsam auf die Brücke zurollte, versperrte ihm ein Feuerwehrmann den Weg. Gleichzeitig erteilte der Mann dem Helfertrupp hinter ihm einige Kommandos. Erst jetzt bemerkte Körner, dass der Weg über die Brücke mit orangefarbenen Markierungen zu einer einspurigen Fahrbahn verengt worden war. Ein Helfer stand winkend an der Brückenauffahrt und brüllte zum anderen Flussufer hinüber. Körner konnte nicht hören, was der Mann rief, doch am anderen Ende der Brücke setzte sich ein LKW in Bewegung und holperte im Schritttempo über die Bohlen. Ein Lieferwagen, kistenweise mit Vöslauer Mineralwasser beladen, fuhr an Körner vorbei, gefolgt von einem Pumpwagen, drei Fahrzeugen vom Roten Kreuz und einem Kipplaster mit einer Fuhre Sand.
Körner kannte die Vorzeichen: Der Ort bereitete sich auf ein Hochwasser vor. Seit dem Morgen hatte der Wasserstand zugenommen, der Fluss war weiter angeschwollen und hatte sich
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