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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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in einen reißenden Strom verwandelt. Die schlammige Brühe knallte mit tosender Wucht gegen den Brückensteher und spritzte über die Deichkrone. Falls es weiter regnete, würde er morgen nicht mehr über den Fluss kommen. So viel er wusste, existierte nur noch die schmale Holzbrücke in Heidenhof, um die Trier zu überqueren, da beide Orte vom Hohen Gschwendt eingeschlossen wurden und es keine weitere Zufahrt gab.
    Körner ließ das Fenster runter und beugte sich aus dem Wagen. »Kann ich fahren?«, brüllte er gegen den Wind.
    Der Feuerwehrmann winkte ihn vorbei. Als er auf gleicher Höhe mit ihm anlangte, zog sich der Mann den Helm vom Kopf und wischte sich mit dem Unterarm das Wasser aus dem Gesicht. Die Locken klebten ihm an der Stirn, und der rote Vollbart glänzte nass. »Sauwetter!«, brummte er. »Fahren Sie schon, bevor der nächste Kipplaster …« Er stutzte und starrte Körner mit aufgerissenen Augen an. »Alex?«, rief er.
    Körner erschrak. Er kannte den Mann mit dem feuerroten Bart nicht, der breitbeinig wie ein Hüne neben seinem Wagen stand. Der Feuerwehrmann beugte sich nach vorne, steckte den Kopf zum Fenster rein und grinste über das gesamte Gesicht. Seine Augen funkelten freundlich. Die braunen Augen! Die dichten Augenbrauen, das spitzbübische Grinsen!
    »Wolfgang Heck?«, fragte Körner vorsichtig.
    »Mann, ich fass es nicht, Alex! Was tust du hier?«
    Da erkannte er Hecks Stimme, den abgehackten, raubeinigen Klang seines Schulfreundes, mit dem er ab dem zehnten Lebensjahr vier Jahre die Schulbank gedrückt hatte. Sie waren gemeinsam im Schulbus zur Hauptschule nach Schwetz gefahren, hatten ihr Jausenbrot geteilt und sich gegenseitig von den Hausaufgaben abgeschrieben, hatten sich im Schulhof mit den Jungens aus der Oberstufe geprügelt und nachsitzen müssen. Nicht bloß einmal waren sie mit einem blauen Auge und zerrissenem Hemd nach Hause gekommen. Die Reaktionen waren unterschiedlich ausgefallen: Sein Vater hatte ihn in die Arme genommen und ihn belehrt, der Klügere gebe nach, und Wolfgang Heck hatte von seinem Vater die nächste Tracht Prügel erhalten. Doch hatte es auch schöne Zeiten gegeben, und schlagartig spürte Körner den penetranten Geruch eines klapprigen Zweitaktmotors in der Nase. Mit dem Moped von Wolfgangs älterem Bruder waren sie am Damm der Trier entlanggefahren, hatten mit Schlafsäcken in der alten Mühle übernachtet und die Tunnel des stillgelegten Bergwerks unsicher gemacht … und in den Sommerferien begannen die ersten Rendezvous mit den Mädchen aus dem Nachbarort. All das lag lange zurück. Körner hatte Wolfgang Heck seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen, doch Hecks Augen verrieten alles: Er war immer noch der gleiche Haudegen und spontane Draufgänger wie damals. Kein Wunder, dass er bei der Feuerwehr arbeitete und bei Katastropheneinsätzen die Mannschaft dirigierte.
    »Dich hier zu sehen, ist ein Wunder.« Hecks Augen leuchteten erfreut.
    Mit einem Mal wurde Körner warm ums Herz. Sein Besuch in Grein war bisher wie ein Albtraum verlaufen, wie ein surreales Erlebnis, aus dem er nicht entfliehen konnte. Erst die Begegnung mit Wolfgang Heck und dessen verschmitztes Lächeln brachten ihn zurück in die Realität, in die Welt, wie sie wirklich war, als erwache er aus einem schlimmen Traum. Die plötzliche Erinnerung an die schönen Zeiten seiner Kindheit ließ die Erlebnisse des Vormittags verblassen. Die Schwarzmalerei war zu Ende, Grein hatte auch seine angenehmen Seiten. Schließlich musste es sie geben, sonst würde er verrückt werden. Im Moment allerdings war Heck sein einziger Hoffnungsschimmer, sobald er sich im Ort befand.
    »Ich habe gehört, du hast die Schabinger Marli aus dem Nachbarort geheiratet. Dass die ausgerechnet dich genommen hat, Alex! Die war schon in der Schule ein knackiges Ding. Warum ist es schief gegangen?«
    Da war es wieder, das leidige Thema! Körner gab keine Antwort. Er wollte nicht schon wieder die alten Geschichten aufwärmen. Vier Stunden Vergangenheitsbewältigung an einem Tag reichten vollkommen.
    »Was treibt dich in diese Gegend?« Heck war nicht zu bremsen, am liebsten hätte er alles aus Körner rausgequetscht.
    »Ein Mädchen wurde in der Bar gefunden.«
    »Oh, ich habe davon gehört. Die kleine Krajnik, blöde Sache.« Schlagartig war Hecks gute Laune verflogen. »Wir müssen unbedingt ein Bier trinken und plaudern. Nur habe ich jetzt keine Zeit, du siehst ja, die Trier ist schon so breit wie ein

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