Der Judas-Schrein
graue Haar aus der Stirn strich. Vielleicht nestelte sie auch gerade an ihrem Hosenanzug, drehte den Absatz ihres Schuhs auf dem Parkett oder starrte auf die Uhr, weil sie wieder in die Besprechung musste.
»Sie könnten mir …«
»Nein! Wenn es die Frau eines Ministers wäre, könnte ich ein Dutzend Beamte bekommen, aber bei einem simplen Mädchen vom Lande nicht.«
»Hier geht es um keine lausige Bauerngöre.«
»Lausige Göre ist Ihre Wortwahl!« Es war keine Rechtfertigung, sie wies ihn lediglich zurecht. Ihre Stimme hatte einen ungeduldigen Tonfall angenommen, und damit war für sie das Gespräch beendet. Er fürchtete, sie könnte auflegen, dennoch blieb sie dran. Er hörte ihren Atem. Warum beendete sie das Telefonat nicht? Merkte sie, wie er herumdruckste?
»Was gibt’s noch?«
Er konnte ihr nichts vormachen, eine Sache lag ihm noch im Magen. »Wie sieht es mit dem Disziplinarverfahren des Landesgendarmeriekommandos aus?«
»Ich habe gehofft, Sie würden mich nicht danach fragen.«
Verdammt! Jetzt wäre es ihm tatsächlich lieber gewesen, er hätte es bleiben lassen.
»Um es kurz zu machen: Nächste Woche Montag haben Sie eine Anhörung vor Gericht. Dr. Sonja Berger hat ebenfalls eine Vorladung bekommen. Ich konnte es nicht verhindern.«
Er schwieg.
»Beschäftigen Sie sich im Moment nicht damit. Der Fall hat Priorität. Bringen Sie mir Ergebnisse, damit ich dem Staatsanwalt etwas vorlegen kann, und ich werde sehen, was sich machen lässt.«
»Wer von der Staatsanwaltschaft ist zuständig?«
»Doktor Hauser.«
Scheiße! Er hätte es wissen müssen. Wenn das Unglück erst einmal zuschlug, dann kam es in geballter Ladung.
»Denken Sie nicht weiter an Hauser! Ich informiere ihn selbst über den Fall. Vielleicht kann ich ihn dazu bewegen, dass er ein gutes Wort für Sie beim Landesgendarmeriekommando einlegt.«
»Hauser?« Körner lachte gequält. Er kannte den alten Griesgram gut genug, um zu wissen, dass er keinen Finger für ihn krümmen würde. »Niemals.«
»Sie haben Recht. Ich hab es auch bloß gesagt, damit Sie auf andere Gedanken kommen.«
Koren legte auf.
Auf andere Gedanken kommen? Scheiße!
Er warf das Handy auf den Beifahrersitz und drehte Alan Parsons Project lauter.
6. Kapitel
Die Sensengasse war eine winzige, holperige Straße, die zwischen dem Allgemeinen Krankenhaus und dem Anatomischen Institut lag. Eine Menge ehrwürdiger Gebäude aus der Geschichte Wiens befand sich in diesem alten Stadtteil, und eines davon war das Institut für Gerichtliche Medizin. Körner war heute Morgen schon einmal in dieser Gegend gewesen, als er Sonja Berger vom Krankenhaus abgeholt hatte. Jetzt war es knapp vier Uhr, er hatte ein schnelles Mittagessen hinter sich gebracht und war nicht in der Stimmung, lange nach einem Parkplatz zu suchen. Er lenkte den Audi über den Randstein vor die Ausfahrt eines Hinterhofs und warf das Kripo-im-Einsatz-Schild auf die Armaturenablage. Sein Besuch in der Pathologie würde nicht lange dauern.
Körner sprang aus dem Wagen. In Wien regnete es immer noch, Sturmböen jagten durch die Gassen, und der Wind pfiff wie ein Schwarm eiskalter Nadeln um die Häuserecke. Er schlug den Mantelkragen auf und verschwand im Torbogen des Instituts.
»Hallo Carl, wo finde ich Sabriski?«
Der Portier sah im Zeitlupentempo von seiner Zeitung auf. Mit den großen Augen eines Uhus, die zusätzlich von der riesenhaften Brille vergrößert wurden, blickte er Körner an. »Saal acht.«
»Danke.« Körner lief über die Treppe in den Keller, wo sich die Pathologie befand.
»Ich glaube nicht, dass sie dich sehen möchte«, rief ihm der Portier nach.
Carl war ein Freund! Er wusste, wie man Körner aufheitern konnte. Aber mit etwas Glück hatte sich Sabriskis Laune inzwischen gebessert.
Das Untergeschoss der Gerichtsmedizin wirkte steriler als der Operationssaal eines Krankenhauses. Nackte Glühlampen hingen von der Decke, es roch nach Phenol und Desinfektionsmittel.
Eben kamen zwei junge Laborassistenten mit verschmierten Kitteln den Gang entlang. Das Klappern der Schuhe hallte an den gefliesten Wänden wider. Grundsätzlich stellten solche seelenlosen Räume für Körner kein Problem dar, da er aber wusste, wo er sich befand, glaubte er den Atem des Todes zu spüren, der sich in jede Fuge der Wände eingenistet hatte.
Am Ende des Gangs lag Saal acht. Körner stieß die Tür auf. Augenblicklich stand ihm der eigene Atem als eiskalter Hauch vor dem Gesicht. Der Saal war
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