Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
menschlichen Gebiss vorkommen.«
    Der Fall wurde immer verrückter. Körner wagte nicht daran zu denken, und dann tat er es doch, und ihm wurde schlagartig übel. »Das bedeutet, jemand hat in die Wunde gebissen?«
    »Nein, keine Bissspuren, Gott behüte!«
    »Was bedeutet es sonst? Hat sich der Täter verletzt? Hat er Spuren seiner eigenen Wunde an der Leiche hinterlassen?«
    »Tja, falls es tatsächlich Spuren des Täters sind, haben wir ein ernstes Problem.« Sie schritt entlang der Flaschen und schnippte mit dem Fingernagel gegen jedes Glas. »Diese Teile weisen Zellatypien auf. Sie stammen von einem anderen Gewebe und haben einen anderen Zellkern.«
    Körner betrachtete die Glasbehälter. Für ihn sahen sie nach Miniatur-Wassergläsern aus, worin winzige Partikel schwammen. »Du sprichst in Rätseln. Ich bin kein Mediziner. Was heißt anders?«
    »Anders heißt: nicht-menschlich.«
    Er ließ die Worte auf sich wirken und dachte nach. »Also tierisch! Ein Hund hat sie zerfleischt. Vielleicht der Köter, der in die Bar gelaufen ist…?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Auch nicht tierisch.«
    »Wovon zum Teufel sprichst du?«
    Sie sah ihn ratlos an.
    Erst jetzt wurde ihm klar, was sie zuvor gemeint hatte, als sie behauptete, Philipp hätte nur blöde Witze über ihre Erklärungen gerissen. Das war noch milde ausgedrückt. Philipp hätte sie und ihre Assistenten von der Uni gnadenlos auf die Schippe genommen, sie mitsamt ihrem Gerede über zerrissene Wunden, zersplitterte Rückenwirbel, punktierte Gehirnflüssigkeit und nicht-menschliches Zahnbein nach Strich und Faden verarscht. Und Körner hätte es ihm nicht einmal übel nehmen können. Er selbst fand es nicht minder abstrus. Hätte er nicht gewusst, dass Sabriski eine der besten Gerichtsmedizinerinnen war, hätte er sie für verrückt erklärt.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagte sie leise. »Aber es kommt noch schlimmer.«
    Sie ging auf die andere Seite des Saals und schaltete den Monitor an, der an einer Kamera und dem Videorekorder hing. Die schwarze Mattscheibe knisterte und wandelte sich in ein weißes Bild. Auf dem Monitor waren handtellergroße, durchsichtig schimmernde Kreise zu sehen, die wie in einer Flüssigkeit schwammen.
    »Das ist die Zelle eines verhornten Epithelgewebes. Du erkennst es an den beweglichen Zellfortsätzen, den Zilien. Die Zelloberfläche sieht aus wie ein Bürstensaum.« Sie zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche ihres Kittels und zeigte ihm die Stellen am Monitor.
    »Bürstensaum, aha«, murmelte Körner. Der Anblick erinnerte ihn an eine pulsierende Qualle, die er als Junge an der Küste Kroatiens mit einem Fischernetz gefangen hatte. Regelmäßig war er mit seinen Eltern in den Sommerferien an den Strand gefahren, doch die Urlaube dauerten nie länger als fünf Tage.
    »Diese Zellen sind etwa acht Tausendstel Millimeter groß«, fuhr Sabriski fort. »Das ist die Aufnahme des Elektronenmikroskops mit zwölftausendfacher Vergrößerung. Damit haben wir das fremde Gewebe untersucht. Die Fleischfetzen, Hautteile, Knorpel- und Blutspuren weisen eine Eigenautonomie auf.« Offensichtlich hatte sie seinen fragenden Blick bemerkt, da sie nach einer kurzen Pause weitersprach. »Normalerweise müsste der Zerfallsprozess bereits eingesetzt haben, doch das Gegenteil ist der Fall. Sämüiche Teile weisen eine erhöhte Zellteilung auf, das Gewebe aktiviert sich von selbst, und die Nerven reagieren auf Einflüsse von außen.«
    Körner wollte den Quatsch nicht länger hören. Genervt blickte er auf die Uhr. »Das Mädchen ist seit neun Stunden tot. Wie kann …?«
    »Aber nicht die organischen Fremdkörper in ihrer Wunde.«
    »Das ist doch Blödsinn!«
    »Schau hin!« Sie klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Monitor. »Das nennst du Blödsinn? Wäre das eine abgetötete Zelle, müssten wir eine feine fadige beziehungsweise körnige Struktur erkennen. Beides ist aber nicht der Fall.«
    »Und wenn du dich irrst?«
    Sie verzog den Mund. »Kann sein, dass ich mich irre, doch nicht das Elektronenmikroskop!«
    »Dein Videoband hat einen Fehler«, behauptete er.
    Sie lachte laut auf. »Das ist eine Live-Aufnahme. Die Teile bewegen sich in diesem Moment unter dem Mikroskop. Das Gewebe ist nicht tot. Es lebt weiter für sich allein! Was du hier gerade siehst, ist eine Zellteilung.« Sie fuhr mit dem Stift über den Monitor. »Der Zellkern ist der Träger der Vererbung und enthält in den Chromosomen die Gene. In diesem Moment werden die

Weitere Kostenlose Bücher