Der Judas-Schrein
und ließ sie der Reihe nach zu Berger über den Tisch schlittern.
Sie griff nach der ersten Akte. »Lesen wir uns ein.«
Er stand auf. »Wollen Sie auch eine Tasse Kaffee?«
Eine Stunde später hatten sie den Autopsiebericht und sämtliche Protokolle mindestens dreimal gelesen, Notizen und Querverweise dazugeschrieben, die Daten miteinander verglichen, Fotos an die Pinnwand gesteckt und eine endlose Liste mit Fragen formuliert. Nach acht Uhr abends telefonierten sie schließlich mit dem Bauamtsleiter von Neunkirchen, dirigierten ihn von der Wohnung in sein Büro und ließen sich aus der Katastermappe mehrere Grundstückspläne von Grein am Gebirge aufs Revier faxen. Damit erstellten sie einen Lageplan des Ortes, maßen die Entfernungen der einzelnen Schauplätze ab, berechneten Wegzeiten und konstruierten mögliche Ablaufpläne. Sie spielten das Szenario des Mordes ein gutes Dutzend Mal nach den verschiedensten Varianten in Gedanken durch, kamen jedoch zu keiner Lösung, bei der alle Fakten nahtlos ineinander übergingen und sich gegenseitig erklärten - immer spießten sich einige Sachverhalte mit anderen, und am Schluss tauchten mehr Fragen auf, als sie hatten lösen können.
Eine Menge leerer Kaffeebecher stand auf dem Tisch, und Körner brummte vom Koffein der Schädel. Das Blut pochte höllisch hinter seiner Schläfe, und er fürchtete, die gesamte Nacht kein Auge zuzutun. Er stand auf und kippte ein Fenster. Frische Luft bauschte den Vorhang. Er blickte auf die Uhr.
»Halb zehn«, brummte er.
Berger lehnte sich zurück und streckte die Arme von sich. »Ich hab mir alle Berichte durchgesehen, fast nichts davon ist brauchbar. Kein einziger Fingerabdruck auf der Leiche. Philipp hat auf dem Fluchtweg des Täters durch den Hinterausgang der Bar keine Spuren gefunden und die Gendarmen im Umkreis von einem Kilometer ebenso wenig.« Sie gähnte verhalten. »Am verrücktesten von allen ist Sabriskis Autopsiebericht von den fremden organischen Fragmenten in der Wunde des Mädchens und die erhöhte Zellteilung des Gewebes … das passt überhaupt nicht ins Schema.«
»Ich weiß«, seufzte Körner. Er starrte auf die an die Pinnwand gehefteten Blätter und Bergers Kritzeleien. Er kannte den Prozess: Sie verrannten sich in einer Sackgasse und sahen den Fall mit Scheuklappen.
»Das alles hilft uns nicht weiter, wir drehen uns im Kreis.« Er nahm die Unterlagen vom Tisch und häufte sie auf der Kommode zu einem Stapel. »Weg damit! Vergessen wir die Polizeiprotokolle, beginnen wir bei Null. Was haben Sie im Ort über Sabine Krajniks Leben herausgefunden?«
Berger griff zu ihrem Notizblock.
Körner stoppte sie. »Nicht aus den Mitschriften, lassen wir die beiseite. Erzählen Sie mir aus dem Bauch etwas über das Mädchen. Woran erinnern Sie sich? Wie schätzen Sie die Kleine ein?«
Berger schob den Papierblock von sich weg. »Sabine war musikalisch. Sie interessierte sich für Musicals und übernahm bei den Schulaufführungen immer eine der Hauptrollen. Zweimal pro Woche nahm sie nach der Schule Gitarreunterricht. Nach der vierten Klasse Sporthauptschule wollte sie die Musikschule besuchen und als zweites Instrument Klavier lernen. Den Eltern fehlte dafür allerdings das Geld. Sie wollten, dass Sabine nach der neunten Schulstufe in die Lehre ging, um später den Schlachthof weiterführen zu können. So viel ich bisher über das Mädchen weiß, hätte sie das nie gewollt. Sie war schlicht die falsche Kandidatin für diesen Job. Ich kann es ihr nicht verdenken.«
Berger schwang im Sessel herum und betrachtete Sabines Foto an der Pinnwand, als suche sie nach weiteren Assoziationen. »Ab und zu war sie mit den Rollerblades unterwegs, brach sich jedoch dieses Frühjahr das Bein und hat die Schuhe seitdem nicht mehr getragen. Weshalb sie die Sporthauptschule besuchte, weiß ich nicht, denn so viel ich herausfand, war sie nicht wirklich sportlich. Schifahren, Schlittschuhlaufen, Aerobic oder Radfahren zählten nicht zu ihren Hobbies. Stattdessen interessierte sie sich für Malerei, Popmusik und Bücher. Nach der Literatur in ihrem Bücherregal zu schließen, wäre sie in einem Gymnasium besser aufgehoben gewesen als in einer Sporthauptschule: Hesse, Kafka, Schnitzler und Dürrenmatt dürfte sie verschlungen haben. Sie schrieb für ihr Alter typische Gedichte … Herz-Schmerz-Lyrik!« Berger lächelte. Erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend?
»Mit den Burschen und Mädchen im Ort hatte sie nicht viel am Hut. Die
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