Der Judas-Schrein
meisten fuhren mit dem Schulbus in die nächstgelegene Hauptschule nach Schwetz und nicht nach Neunkirchen.«
»Schwetz kenne ich«, murrte Körner, ließ es aber beiläufig klingen.
Vielleicht dachte sich Berger ihren Teil, schenkte seinem Kommentar jedoch keine Bedeutung. »Sabine war im Ort zwar nicht ausgesprochen beliebt, doch auch nicht gerade das Gegenteil. Es gab keine Fehden, keine Feinde, keine Streitereien, keine Hassbeziehungen. Wem nützte also die Tat? Wer kommt in Frage? Keine Ahnung!« Sie zuckte mit den Achseln. »Einziges mageres Motiv: Sabine wollte weder dem Kirchenchor beitreten noch den Schlachthof der Eltern übernehmen. Ein ziemlich dünner Beweggrund«, gab sie zu. »Deshalb ein Mädchen zu ermorden, erscheint völlig absurd.«
»Doch welches Motiv auch immer es war«, warf Körner ein, »jemand wusste davon und gab der Zeitung einen anonymen Tipp. Derjenige muss entweder der Mörder sein, oder zumindest den Mörder kennen. In dem Ort gibt es folglich jemanden, der etwas weiß!«
»Oder in der Schule in Neunkirchen.«
»Mag sein, jedenfalls müssen wir diese Person finden. Was ergab Sabines Tagebuch?«
Die Kriminalpsychologin lächelte wehmütig. »Das Tagebuch«, ächzte sie. »Gedichte über Weltschmerz, Lyrik über Liebe, Tod und Leid, alternativ grün angehaucht, für die sozial Schwachen, gegen die Missstände dieser Welt… das Übliche eben! Tiefsinniges Teenager-Gerede über Beziehungen, doch kein konkreter Hinweis, der uns eine Spur zu ihrem Mörder geben könnte. Einzig ein Junge taucht immer wieder auf: Martin! Bestimmt wusste sie es selbst noch nicht, doch bin ich mir sicher, sie war in den Burschen verliebt.«
»Martin und wie noch?«
»Bloß Martin, kein Nachname. Er ist übrigens der Einzige im Ort, zu dem sie näheren Kontakt hatte.«
»Woher wissen Sie, dass er aus dem Ort stammt? Es könnte auch ein Schulfreund aus Neunkirchen sein«, erinnerte er sie an ihren eigenen Einwurf.
»Wohl kaum. Sie erwähnte, dass er sich für die Greiner Dorfchronik interessierte und öfters das Kirchenarchiv besuchte.«
Körner dachte nach. »Ist es etwa aVr Martin Goisser, den sie am Vortag angerufen hat?«
Berger massierte sich den Nasenrücken. »Möglich.«
Körner blickte auf die Armbanduhr, mittlerweile war es Viertel vor zehn. »Den Knaben verhören wir morgen. Machen wir weiter. Was haben Sie noch rausgefunden?«
»Ach ja … die hellen Flecken an der Tapete stammen übrigens von gerahmten Fotos. Ursprünglich hingen dort Bilder von Carina und Mathias Krajnik, Sabines älteren Geschwistern.«
Körner hob die Augenbrauen. »Die zwei haben Sie bisher mit keinem Wort erwähnt. Wo stecken die beiden?«
»Tot.« Sie kramte in den Unterlagen und fischte zwei Blätter aus einem Packen. »Der Dorfarzt stellte die Totenscheine aus.«
Sieh an, sieh an, dachte er. Sein Freund, der Dorfarzt.
»Ich habe mir auf der Gemeinde Kopien davon geben lassen. Die Krajnikgeschwister starben an Herzversagen.«
Sie reichte Körner die Blätter. Die Kopien waren ziemlich blass, trotzdem erkannte er Doktor Webers Unterschrift, die er schon auf Sabine Krajniks Totenschein gesehen hatte. Die Schrift des Arztes war unverwechselbar lang gezogen und spitz. Der Junge war am 17. August 1999 gestorben und das Mädchen am 11. Oktober 2001. Diagnose: Herzversagen.
»Traurig, zwei Kinder hintereinander zu verlieren, und zwei Jahre darauf das dritte, und noch dazu auf diese Art und Weise«, murmelte Körner. Plötzlich überkam ihn ein miserables Gefühl, sein Magen krampfte sich zusammen. Hätte er vom Tod der beiden älteren Kinder gewusst, hätte er die Eltern beim Gespräch in der Küche nicht so herzlos angefahren. Wie hypnotisiert starrte er auf die Totenscheine. Am linken oberen Rand waren die Personendaten angeführt. Anstelle des Geburtsdatums der Kinder prangte ein hellgrauer Fleck, der aussah, als habe jemand das Datum entfernt.
»Haben Sie die Fotokopien selbst erstellt?«
»Nein, Frau Lusack machte mir Abzüge davon - übrigens eine nette Dame. Warum fragen Sie?«
»Auf beiden Dokumenten wurde das Geburtsdatum mit Tipp-Ex ausgelackt.«
Sonja Berger starrte ihn an.
»Wissen Sie, wie alt die Kinder waren, als sie starben?«, fragte Körner.
»Moment, das habe ich mir irgendwo vermerkt.« Sie blätterte in den Unterlagen und schlug einen Block auf. »Mathias wurde 1985 geboren und Carina 1987.«
Körner überschlug das Alter der beiden im Kopf. »Vierzehn! Wann genau wurden sie
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