- Der Jünger des Teufels
im
Bosporus. Er prahlte damit, eine Atemtechnik entwickelt zu haben, die es ihm
erlaube, länger als fünf Minuten die Luft anzuhalten. Dabei verlangsamte sich
sein Herzschlag bis an die Grenze des klinischen Todes. Ich glaube, auch das
hatte mit seiner Faszination für das Sterben zu tun. Es machte ihm Spaß, bis an
die Schwelle des Todes zu gehen.«
Ich war stärker beunruhigt als je zuvor. Ich nahm mir vor,
sofort nach meiner Rückkehr nach Washington bei Gericht einen Exhumierungsbeschluss
für Gemals Leichnam zu beantragen. Nur so konnte ich seinen Tod überprüfen. »Was
Sie mir gerade erzählt haben, ist sehr verwirrend. Ich frage mich, ob Ihr
Bruder die Hinrichtung tatsächlich überlebt haben könnte.«
Yeliz knöpfte ihren Mantel zu. Sie sah abgespannt aus. »Ich
persönlich würde nichts glauben, bis ich mit eigenen Augen gesehen hätte, dass
Constantine tot und begraben ist. Ich muss jetzt gehen. In einer halben Stunde
veranstalte ich ein Seminar … falls ich dazu noch in der Lage bin.«
»Bitte warten Sie, Yeliz …«
»Tut mir leid. Ich muss jetzt wirklich gehen. Ich bin schon
spät dran. Wir sollten jetzt beide von hier fort.«
Yeliz steuerte schon auf die Treppe zu. Ihre Schritte
hallten durch das unterirdische Gewölbe. Ich erhob mich, um ihr zu fol gen. Der bloße
Gedanke, allein an diesem schaurigen Ort zu verweilen, versetzte mich in Angst
und Schrecken.
Eine Sekunde später wurde mein ärgster Albtraum
Wirklichkeit. Das Licht erlosch, und der ganze Palast wurde in Dunkelheit
getaucht.
Klick!
Der Jünger schaltete das Licht aus und grinste. Er hatte
die Stromzufuhr im gesamten Untergeschoss des Versunkenen Palasts unterbrochen.
Doch in der Wachstube im Erdgeschoss, in der er sich aufhielt, brannte noch
Licht. Er trat vom Schaltkasten zurück. Auf dem Boden lag der Leichnam des
jungen Wachmanns, dem Gemal eine Stricknadel ins Herz gestoßen hatte. Der junge
Bursche hatte ihm das Gitter geöffnet. Gemal hatte sich als Tourist ausgegeben,
der sich angeblich verirrt hatte, und mit dem Finger hilflos auf den Stadtplan
gezeigt. Der ältere Wachmann lag zusammengesunken auf dem Stuhl. Er hatte
dasselbe Schicksal erlitten wie sein jüngerer Kollege: einen Stich ins Herz.
Der Jünger trat über den Leichnam auf dem Boden hinweg und
zog das Nachtsichtgerät aus seinem Rucksack. Jetzt begann der Spaß.
Er steuerte auf die Treppe zu, die in den Versunkenen
Palast hinunterführte, blieb auf der obersten Stufe stehen, setzte die Nachtsichtbrille
auf und schaltete sie ein.
Jetzt konnte er trotz der Dunkelheit dort unten sehen, nur dass
alles lindgrün gefärbt war. Die reinste Zauberei. Aus der Nacht wurde
Tag.
Als er in den Turnschuhen die Treppe hinabstieg,
quietschten die Gummisohlen kein einziges Mal.
79.
Am liebsten hätte ich in der pechschwarzen
Dunkelheit laut geschrien, doch ich war starr vor Angst und traute mich nicht, auch
nur einen Schritt zu gehen. Der Gedanke, vom Holzsteg zu rutschen und ins
Wasser zu fallen, ließ mich schaudern. Ich befand mich in derselben Situation
wie in den Katakomben.
Warum war das Licht erloschen? Ich hatte die schreckliche Ahnung, dass gleich etwas
Entsetzliches geschehen würde.
»Yeliz? Wo sind Sie?«
»Hier drüben.«
Gott sei Dank, ich war nicht allein. Schon der Klang von Yeliz’
Stimme war ein Trost.
»Miss Moran, ich … ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich fürchte
mich im Dunkeln.« Yeliz’ Stimme zitterte.
Fantastisch. Und ich hatte Angst in geschlossenen Räumen.
Ein tolles Gespann.
»Wir sollten laut schreien. Die Wachmänner müssten uns hören.«
Doch Yeliz war dermaßen erstarrt, dass sie keinen Laut
herausbrachte, daher schrie ich aus vollem Halse: »Hallo! Können Sie uns hören?
Ist da jemand?«
Der dumpfe Klang meiner Stimme durchdrang die Dunkelheit,
doch niemand antwortete. »Wir müssen einen Lichtschalter oder eine Fackel
suchen, Yeliz.«
»Ich … ich habe ein Feuerzeug in der Handtasche.«
»Wo ist sie?«
»Ich habe sie fallen lassen, als das Licht ausging.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind, Yeliz. Ich komme zu Ihnen und suche
die Tasche.«
»Ich beweg mich nicht«, versprach sie.
In der Dunkelheit war es schwierig, die Entfernung richtig einzuschätzen,
doch nach dem Klang ihrer Stimme zu urteilen, konnte sie nur ein paar Meter von
mir entfernt sein. Ich kniete mich auf den Gehweg, rutschte langsam vorwärts
und tastete mit ausgestreckten Fingern über den Boden.
»Haben Sie die Tasche gefunden?«, fragte Yeliz mit
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