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Der Jünger

Der Jünger

Titel: Der Jünger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Sala
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er sich bald nicht mehr mit diesen irdischen Bedürfnissen herumschlagen musste.
    Als er fertig war, ging er in seinen Raum zurück, sammelte die Lebensmittel, die er noch hatte, in einer Tüte und machte sich auf den Weg zum anderen Ende des Gebäudes.
    Mit einem Gebet auf den Lippen und einem Lächeln im Gesicht betrat er das Innere des Hochofens, doch seine gute Laune war schnell verflogen.
    Einer der Männer hatte sich erhängt. Er hatte die Kette, die von seinem Handgelenk wegführte, um seinen Hals gewickelt, sich fallen lassen und sein Körpergewicht genutzt, um das grausame Werk zu vollenden. Und es sah so aus, als hätten sich die Ratten über Nacht an ihm zu schaffen gemacht. An einigen Stellen war das Gesicht bis zu den Knochen abgenagt.
    “Du lieber Gott, was ist hier passiert?”, rief er.
    Tom Gerlich blickte auf, rührte sich aber nicht. “Was zum Teufel denkst du denn, du verdammter Wichser? Er hat sich umgebracht, und jetzt verwest er. Mal sehen, wer der Nächste ist!”
    Fassungslos starrte Jay auf seinen toten Jünger. Durch die Verstümmelungen, mit denen die Ratten sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zernagt hatten, musste Jay die Namen seiner Jünger einzeln durchgehen, um überhaupt feststellen zu können, wer der Tote war. Als ihm klar wurde, dass es sich um Matthew handelte, ließ er die Tüte mit den Lebensmitteln fallen und schlug sich die Hände vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Das war ein Omen. Matthew war fast von Anfang an bei ihm gewesen, und nun war er gegangen. Was hatte das zu bedeuten?
    “Ich verstehe das nicht!”, rief Jay und hob die Arme. “Herr, wie konntest du das zulassen?”
    Jemand lachte. Jay wirbelte herum. Es war Simon Peters, und er zeigte mit dem Finger auf Jay.
    “Er versteht es nicht”, kreischte Simon kopfschüttelnd an die anderen Gefangenen gerichtet. Doch die hörten gar nicht zu, sondern schrien, tobten und winselten um ihr Leben.
    Doch Simon ließ sich nicht beirren und redete weiter. “Er versteht es nicht. Könnt ihr das fassen? Er versteht es nicht!”
    Wieder zeigte er auf Jay. “Du lügst, du verdammte Teufelsbrut. Gott hat damit überhaupt nichts zu tun. Du hast ihn angekettet und verhungern lassen, deshalb ist es passiert, und das weißt du auch. Sieh dir seine Handgelenke an, du Hurensohn, er hatte schon Wundbrand an den offenen Stellen, und am Kopf fraßen schon die Maden, da, wo er sich Haarbüschel ausgerissen hat. Er ist schon vor Wochen durchgedreht, und du weißt nicht, wie das passieren konnte? Verflucht noch mal! Fahr zur Hölle!”
    “Nein!”, schrie Jay und taumelte rückwärts aus der Tür. “Nein! Niemals! Niemals!”
    Er stolperte über die Schwelle, dann drehte er sich um und rannte los. Da hörte er Judas, der brüllte, man solle ihn rauslassen, und dachte an das Blut zwischen seinen – nein, nicht seinen, ihren! – Beinen. Nichts lief wie geplant! Das war unbegreiflich. Sein Plan war doch perfekt gewesen.
    Jays Herz hämmerte so heftig, dass er seine Schritte nicht mehr hören konnte. Die Wände des Lagerhauses schienen sich wie ein Blasebalg mal nach innen und mal nach außen zu bewegen. Als er nach oben blickte, verwandelten sich die Tauben, die auf den Dachbalken saßen, in Dämonen und starrten ihn mit grinsenden Gesichtern an.
    Er hörte seine eigenen Schreie. Dann schlug er sich die Hände vor die Augen. Das musste ein böser Traum sein – eine Prüfung. Bald würde er sicher daraus erwachen!
    Die Arme über dem Kopf verschränkt, sank er auf die Knie und erwartete, jeden Moment von der Hölle verschlungen zu werden. Doch nichts geschah. Als er wieder aufblickte und seine Dämonen verschwunden waren, heulte er auf.
    Sein Kopf tat weh. In letzter Zeit hatte er fast ständig Schmerzen. Sie ließen ihn gar nicht mehr los. Er brauchte Ruhe. Er musste beten und herausfinden, was er falsch gemacht hatte, doch der dumpfe Schmerz in seinem Nacken wurde immer schlimmer. Als er sein Taxi erreicht hatte, verweigerten seine Beine ihren Dienst und sein rechter Arm fühlte sich taub an. Er schaffte es gerade noch einzusteigen, bevor er ohnmächtig wurde. Sein ganzer Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Das Letzte, woran er sich noch erinnerte, war der Riss in der Kopfstütze und der Geruch von Fäkalien.
    Als January ins Revier kam, trug sie eine weiße Hose, dazu eine gelbe Korsage mit der passenden, taillierten Jacke und ziemlich hohe Pumps. Ihre offenen Haare fielen ihr wie Seide über die

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