Der Jünger
aus der Stirn, dann atmete sie tief durch. Sie konnte keine Anzeichen dafür finden, dass etwas nicht stimmte. Während sie sich einredete, dass alles in Ordnung sei, machte sie sich auf den Weg nach Hause. Aber je länger sie lief, desto größer wurde ihre Gewissheit, dass sie beobachtet wurde. Fünf Minuten von ihrem Ziel entfernt, begann January, wieder schneller zu joggen, und sie verlangsamte ihren Schritt erst, als sie die Tür erreicht und hinter sich geschlossen hatte.
Noch immer war sie sich nicht im Klaren darüber, ob sie das, was sie wusste, für sich behalten oder Ben erzählen sollte, so wie sie es ihm versprochen hatte. Eins war jedenfalls sicher: Wenn er es herausfand, dann würde er zu dem gleichen Schluss gelangen wie sie.
Der Straßenprediger – der Sünder, der Mann, der von sich glaubte, Jesus zu sein – lauerte ihr auf.
Aber warum?
Sie ging in ihr Schlafzimmer und blieb angespannt vor dem Spiegel stehen.
Ihre Gesichtszüge waren durch ihre lateinamerikanische Herkunft geprägt – etwas, auf das sie immer stolz gewesen war. Ihre dunklen Haare und Augen sahen fast schwarz aus, wie bei ihrem Vater. Doch ihre vollen Lippen und die gerade Nase hatte sie von ihrer Mutter geerbt, ebenso wie ihr Lachen. Sie hatte es sich immer hoch angerechnet, in der Lage gewesen zu sein, Benachteiligungen aufgrund ihrer Herkunft und ihres Geschlechts zu überwinden. Doch im Augenblick wünschte sie sich sehnlichst, irgendeine ganz normale Weiße mit blondem Haar und blauen Augen zu sein, die Susie Smith hieß. Nur wenige Leute kannten ihren richtigen Namen, doch wenn der Sünder dazugehörte, war sie in großen Schwierigkeiten.
Hastig wandte sie sich vom Spiegel ab und begann sich auszuziehen. Sie duschte schnell, zog sich fürs Büro an und ging zur Tür. In der Mitte des Wohnzimmers blieb sie stehen. Ihre Hände zitterten. Sie hatte sie zu Fäusten geballt. Einen Moment blieb sie dort stehen, dann drehte sie sich wieder um, ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Sie zog eine abschließbare Kiste heraus, angelte in der Spitze eines ihrer Winterstiefel nach dem Schlüssel und öffnete die Box.
Der zinngraue Revolver, der darin lag, funktionierte halbautomatisch, ein volles Magazin lag daneben. Sie nahm beides in die Hand, lud die Waffe, ließ sie in ihre Schultertasche gleiten und packte die Kiste wieder in den Schrank zurück. Es war mindestens ein Jahr her, dass sie damit geschossen hatte, doch sie hatte es zwischenzeitlich nicht verlernt. Wenn nötig, würde sie die Pistole benutzen.
Das zusätzliche Gewicht in der Tasche verschaffte ihr etwas Trost, als sie die Wohnung verließ und die Treppe hinunterstieg. Plötzlich blieb sie stehen, erinnerte sich daran, was ein Cop einmal über ein Mordopfer erzählt hatte. Es war etwas über die Vorhersagbarkeit von Verhaltensweisen gewesen. Der Polizist hatte gemeint, wenn dieser Mann nicht so ein Gewohnheitstier gewesen wäre, hätten seine Feinde nicht so leicht gewusst, wie sie ihn kriegen konnten.
Sie ging wieder zurück und nahm stattdessen den Fahrstuhl. Wenn das hieß, dass sie besser jeden Tag einen anderen Weg zur Arbeit nehmen sollte, dann würde sie das tun. January hätte alles getan, um am Leben zu bleiben.
Was die Frage betraf, ob sie Ben sagen sollte, wo sie den Mann schon einmal gesehen hatte, so würde sie im Laufe des Tages noch einmal darüber nachdenken und es ihm wahrscheinlich heute Abend erzählen.
Wahrscheinlich.
Jay hatte in der Gasse hinter Januarys Apartmenthaus in seinem Taxi gesessen, als sie aus dem Park gerannt kam. Es war ihm nicht entgangen, wie sie sich über die Schulter umgesehen hatte, bevor sie im Haus verschwunden war. Sie bewegte sich, als hätte sie Angst. Der Gedanke, dass sie sich fürchtete, gefiel ihm nicht. Er hatte daran gedacht, sie heute beim Sender anzurufen, einfach nur, um ihre Stimme zu hören. Doch dann hatte er seine Meinung geändert. Dieses Interesse an ihr schien mit dem, was er sich vorgenommen hatte, gar nichts zu tun zu haben. Dennoch fühlte er sich von ihr angezogen, ohne zu wissen, warum. Seine zweite Chance, für die Erlösung zu kämpfen, wurde mit jedem Tag geringer, und er musste noch so viel erledigen, bevor er seine Aufgabe erfüllt hatte.
Sobald January sicher in ihrem Haus war, fuhr Jay aus der Gasse heraus und verschwand. Wenige Häuserblocks weiter bog er in eine verkehrsreiche Straße ein und begann mit der Arbeit. Es galt, etwas Geld heranzuschaffen und weitere
Weitere Kostenlose Bücher