Der Jünger
war nicht der Einzige, der sich Gedanken um die Zeichnung von Brady Mitchell machte. Seitdem sie dieses Gesicht gesehen hatte, wurde January von Schuldgefühlen geplagt, weil sie der Polizei nicht gesagt hatte, woher sie es kannte. Es tröstete sie etwas, dass dies deren Untersuchungen auch nicht viel weiter gebracht hätte. Sie konnte außerdem nicht mit hundertprozentiger Sicherheit diesen Mann als denselben identifizieren, der ihr begegnet war, obwohl sie es im tiefsten Innern wusste.
Sie beendete ihren Arbeitstag in einer Form, die man nur als wenig produktiv bezeichnen konnte, und verließ den Sender, bevor sie jemand darauf ansprach. Auf dem Weg nach Hause holte sie sich beim Italiener ein Menü zum Mitnehmen und erreichte ihr Apartment schließlich um kurz vor acht.
In dem Moment, als sie den Schlüssel zu ihrer Wohnung umdrehte, begann der Stress des Tages langsam von ihr abzufallen. Mit dem Einschnappen des Schlosses, das den Rest der Welt nach draußen verbannte, lösten sich die noch verbliebenen Spannungen in Luft auf. Sie warf den Schlüssel auf den Flurtisch, lief durch die Räume ins Schlafzimmer und ließ unterwegs den Imbiss in der Küche stehen.
Innerhalb von Minuten hatte sie die Arbeitskleidung gegen ein paar Jogginghosen und ein altes T-Shirt eingetauscht. Es war ein wunderbares Gefühl, mit nackten Füßen in die Küche zu laufen, in Vorfreude auf die Pasta Primavera, die bereits auf dem Küchentresen wartete. Sie durchsuchte ihre Schränke auf der Suche nach dem Rotwein, den ihr jemand vergangenes Jahr zum Valentinstag geschenkt hatte. Dann fiel ihr ein, dass sie sich die Flasche dieses Jahr am Valentinstag aus Frust einverleibt hatte, weil sie mit einunddreißig immer noch keine ernsthafte Beziehung vorweisen konnte.
Doch sie ließ sich ihre Stimmung nicht dadurch verderben, dass ihr der Wein zum Essen fehlte. January summte vor sich hin, holte eine Pepsi aus dem Kühlschrank und einen Teller aus dem Schrank. Sie füllte die Pasta auf den Teller, stellte ihn in die Mikrowelle und wärmte sie eine Minute auf. In der Zwischenzeit organisierte sie sich ein Glas, warf ein paar Eiswürfel hinein und füllte es bis zum Rand mit Cola. Als es noch stark sprudelte, nahm sie den ersten Schluck und genoss den Sprühnebel auf ihrer Nasenspitze. Die Uhr der Mikrowelle klingelte zum Signal, dass ihr Essen fertig war. Sie legte sich eine Gabel auf den Teller und trug ihre Mahlzeit ins Wohnzimmer.
Der erste Bissen war so wunderbar wie erwartet. Sie kaute genüsslich und schluckte, bevor sie sich die Fernbedienung schnappte. Von Natur aus war sie eine Zapperin. Einerseits, weil sie die Konkurrenz abchecken wollte, und andererseits, weil sie sich schnell langweilte.
Während sie aß – wobei sie allerdings die Erbsen beiseite legte und als kleines Häufchen am Tellerrand lagerte –, surfte sie durch das Programm.
Sie war auf dem Weg in die Küche, um das Geschirr wegzuräumen, als das Telefon klingelte. Schnell stellte sie Teller und Besteck ins Abwaschbecken und griff nach dem Hörer.
“Hallo?”
“Hallo, Süße, ich bin's.”
January war froh, dass niemand das dumme Grinsen auf ihrem Gesicht sehen konnte. “Ben?”
Sie hörte ein leises Schnaufen. “Wie viele Männer nennen dich denn Süße?”, erwiderte er empört.
Sie lachte.
In dem Moment war Ben klar, dass sie ihn hereingelegt hatte. Eigentlich hätte er weiter beleidigt sein müssen, wenigstens für ein paar Sekunden, aber er liebte ihr Lachen.
“Okay, du hast mich erwischt.”
“Tut mir leid”, erwiderte January, “aber ich konnte nicht widerstehen.”
“Hast du schon gegessen?”
“Gerade eben. Und du?”
“Fange jetzt gleich an. Ich wollte dir nur ein paar Neuigkeiten verraten.”
“In Zusammenhang mit der Zeichnung?”
“Ja. Rick konnte sich daran erinnern, wo er den Mann schon mal gesehen hat.”
“Echt? Wissen wir, wer es ist? Habt ihr ihn gefunden?”
Ben grinste. January war wirklich beharrlich.
“Ja, echt. Nein, wir wissen nicht, wer er ist, und nein, wir haben ihn nicht gefunden – noch nicht. Allerdings gibt es einen Vorteil, mit dem wir nicht gerechnet haben. Er befindet sich bereits in der Kartei.”
“Du meinst, er ist ein Krimineller?”
“Nicht direkt, aber er ist wegen Hausfriedensbruch festgenommen worden.”
“Wie heißt er?”, fragte sie.
“Dieses kleine Detail haben wir noch nicht herausgefunden. Der einzige Name, den er damals den Beamten gegeben hat, ist 'der Sünder'.”
“Oh,
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