Der Jünger
immer, wenn er ihr die Wahrheit sagte, dann hieß das, es existierte eine ärztliche Diagnose. Was bedeutete, dass ihr bisher ein wichtiger Anhaltspunkt entgangen war. Ihnen allen. Sein Phantombild musste unbedingt schnell in den Krankenhäusern herumgezeigt werden.
“Woher wissen Sie denn, dass Sie sterben?”, fragte January. “Bei welchem Arzt waren Sie denn? Vielleicht hat er sich ja geirrt. Es kann doch auch sein, dass Sie überhaupt nicht krank sind.”
Jay schlug mit der Faust gegen die Wand der Telefonzelle. “Die Ärzte wissen genau, was ich habe, aber sie können mich nicht heilen. Also, warum sollte ich da noch einmal hinrennen? Jetzt ist sowieso alles egal.”
“Sie behaupten, dass sie schon einmal in der Hölle waren, richtig?”
“Das stimmt. Ich bin in der Hölle gewesen, und es war schrecklich. Verstehen Sie nicht? Deshalb muss das alles getan werden. Ich gehe auf seinen Pfaden, lebe sein Leben und leide seine Leiden.”
“Jetzt sage ich Ihnen mal, was ich sehe. Ich sehe einen Mann, der vollkommen außer Kontrolle geraten ist. Einen Mann, der glaubt, er könnte sich den Weg in den Himmel erkaufen, indem er kriminelle Taten begeht. Wenn sie mich fragen, dann sind Sie komplett verrückt, Mister. Und wissen Sie, was ich noch glaube? Als Sie aus der Hölle zurückkamen, haben Sie den Teufel mitgebracht.”
“Nein!”, schrie Jay. “Sie lügen! Sie lügen!” Das war der letzte verständliche Satz, den er hervorbrachte, bevor die Schmerzen seinen Verstand vernebelten.
January hörte ihn noch weiter brabbeln, doch seine Worte ergaben keinen Sinn mehr – wenn sie das überhaupt je getan hatten. Der Telefonhörer schien ihm aus der Hand gefallen zu sein und gegen die Wand der Telefonzelle zu schlagen. Aber die Verbindung war noch nicht unterbrochen. Er stammelte etwas und weinte, doch sie konnte kein Mitleid für ihn empfinden.
Gerade als sie auflegen wollte, fiel ihr ein, dass sie jetzt eine offene Leitung hatte und die Polizei vielleicht seinen Standort ausfindig machen könnte. Ohne zu zögern, legte sie den Hörer beiseite und beeilte sich, ihr Handy zu holen.
Ben kam gerade aus einem Imbiss mit einer Tasse Kaffee in der einen Hand und einer Aprikosenplundertasche in der anderen. Sein Handy klingelte genau in dem Moment, als er den ersten Bissen von seinem Kuchen nahm. Er ging schnell zum parkenden Wagen, stellte den Kaffee auf die Kühlerhaube, schluckte und meldete sich dann.
“North.”
“Ben, ich bin es. Er hat mich gerade angerufen und …”
“Geht es dir gut? Hat er gesagt, was …”
“Ben! Ben! Bitte hör mir zu!”
Ben atmete tief durch. “Ich höre.”
“Wir haben uns unterhalten, da ist er ausgeflippt. Ich glaube, er ist in einer öffentlichen Telefonzelle. Ich höre Stadtgeräusche, Straßenverkehr und Leute. Und er brabbelt die ganze Zeit vor sich hin, ohne dass ich ihn verstehen kann.”
“Ich versteh kein Wort!”, rief Ben.
Nun war es an January, tief durchzuatmen.
“Die Leitung zwischen meinem Telefon und dem, von dem er anruft, ist noch offen. Er hat nicht aufgelegt, und er ist noch da. Ich höre ihn im Hintergrund.”
“Oh Mann”, brummelte Ben. “Hör zu, ich muss ein paar Leute von der Telefongesellschaft anrufen. Was immer du tust, häng nicht auf.”
“Kannst du den Anruf verfolgen?”
“Das will ich gerade rausfinden. Ich rufe dich auf dem Handy zurück.”
January unterbrach ihre Handyverbindung.
Ihre Kaffeemaschine signalisierte mit einem Blubbern, dass der Kaffee fertig durchgelaufen und trinkbereit war.
Sie goss sich eine Tasse ein, nahm den Hörer wieder auf, an dem sie Jay noch vermutete, und lauschte gebannt, was wohl als Nächstes passieren würde. Sie hörte ihn immer noch herumbrabbeln und Krach schlagen. Bewegungslos stand sie da, traute sich kaum zu atmen, während der Typ am anderen Ende der Leitung durchdrehte.
Ben hatte das Rennen gegen die Zeit gewonnen. Der Anruf bei einem Techniker der Telefongesellschaft hatte ihm tatsächlich eine Adresse geliefert. January hatte recht gehabt: Es handelte sich um eine öffentliche Telefonzelle mitten in der Stadt, aber jetzt, mitten im Berufsverkehr, würde es einige Zeit dauern, bis er sein Ziel erreicht hatte.
Sirene und Blaulicht kamen nicht infrage, um den Verdächtigen nicht zu warnen. Also mussten sie sich wie alle anderen durch den Verkehr vorarbeiten, doch eine Streife, die sich in der Nähe des Zielortes befand, wurde bereits benachrichtigt.
“Meinst du, wir schaffen
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