Der Jüngling
in Erstaunen zu setzen. Ich habe ein zähes Leben wie ein Hofhund. Ich kann auf die bequemste Weise zwei entgegengesetzte Gefühle zu ein und derselben Zeit empfinden – und das selbstverständlich ganz unwillkürlich. Aber nichtsdestoweniger weiß ich, daß das ehrlos ist, besonders weil es gar zu verständig ist. Ich habe mein Leben jetzt bis nahe an die Fünfzig gebracht und weiß bis jetzt noch nicht, ob es gut oder schlecht ist, daßich so lange gelebt habe. Natürlich liebe ich das Leben, das ergibt sich ohne weiteres aus der Sache selbst; aber wenn ein Mensch, wie ich, das Leben liebt, ist das unwürdig. In letzter Zeit ist etwas Neues aufgekommen und Menschen wie Krafft leben sich nicht in die Verhältnisse ein, sondern schießen sich tot. Aber es ist ja klar, daß die Kraffts dumm sind; na, aber wir sind klug – mithin ist es auch hier nicht möglich, eine Parallele zu ziehen, und die Frage bleibt dennoch offen. Und steht denn die Erde nur für solche Leute wie uns? Das wahrscheinlichste ist: ja; aber dieser Gedanke ist doch gar zu trostlos. Übrigens aber ... übrigens aber bleibt die Frage dennoch offen.«
Er sagte das mit trauriger Miene, und trotzdem wußte ich nicht, ob es aufrichtig gemeint war. Er hatte immer so eine Art von Sicherheitswinkel, den er unter keinen Umständen verlassen wollte.
IV
Ich überschüttete ihn damals mit Fragen und stürzte mich auf ihn wie ein Hungriger auf Brot. Er antwortete mir stets bereitwillig und geradeheraus, aber zu guter Letzt leitete er die Erörterung immer auf Sentenzen von ganz allgemeinem Inhalt hin, so daß es in Wirklichkeit nicht möglich war, ein Resultat zu gewinnen. Und dabei hatten mich alle diese Fragen mein ganzes Leben lang beunruhigt, und ich gestehe offen, daß ich noch in Moskau ihre Entscheidung aufgeschoben hatte, und zwar eben bis zu unserm Wiedersehen in Petersburg. Ich sprach das ihm gegenüber sogar offen aus, und er lachte nicht über mich – im Gegenteil, ich erinnere mich, daß er mir die Hand drückte. Über die allgemeine Politik und die sozialen Fragen konnte ich fast nichts aus ihm herausbekommen, und gerade diese Fragen beunruhigten mich im Hinblick auf meine »Idee« am allermeisten. Über Leute wie Dergatschew entlockte ich ihm einmal die Bemerkung, sie seien »unter aller Kritik«; aber gleichzeitig fügte er sonderbarerweise hinzu, er behalte sich »das Recht vor, seiner Meinung keinerlei Bedeutung beizulegen«. Darüber, wie die jetzigen Staaten und die jetzige Welt ein Ende nehmen würden und in welcher Weise eine neue soziale Gesellschaftsordnung an ihre Stelle tretenwürde, wollte er sich schrecklich lange nicht äußern, aber endlich preßte ich doch einmal ein paar Worte aus ihm heraus.
»Ich glaube, das wird alles in äußerst gewöhnlicher Weise vor sich gehen«, sagte er. »Es werden ganz einfach alle Staaten, obwohl ihre Budgets aufs schönste balancieren und »keine Defizits vorhanden sind«, un beau matin definitiv in der Klemme sitzen und alle ohne Ausnahme den Wunsch haben, nicht zu bezahlen, damit sie alle ohne Ausnahme sich in einem allgemeinen Bankrott erneuern können. Dem wird sich jedoch das ganze konservative Element der ganzen Welt widersetzen, denn eben dieses wird der Aktionär und Gläubiger sein und wird den Bankrott nicht zulassen wollen. Dann wird selbstverständlich sozusagen ein allgemeiner Oxydationsprozeß beginnen; es werden viele Juden dazukommen, und die Herrschaft der Juden wird beginnen; darauf aber werden alle diejenigen, die niemals Aktien gehabt und überhaupt nichts besessen haben, das heißt alle Armen, an dem Oxydationsprozeß natürlich nicht teilnehmen wollen ... Es wird ein Kampf beginnen, und nach siebenundsiebzig Niederlagen werden die Armen die Aktionäre vernichten, ihnen ihre Aktien wegnehmen und sich auf ihren Platz setzen, natürlich als Aktionäre. Vielleicht werden sie auch irgend etwas Neues sagen, vielleicht aber auch nicht. Wahrscheinlicher ist, daß sie bald ebenfalls Bankrott machen werden. Weitere Vermutungen über die Schicksale, die das Angesicht der Welt verwandeln werden, vermag ich nicht aufzustellen, mein Freund. Übrigens, lies doch in der Apokalypse nach ...«
»Wird denn wirklich all das so materiell zugehen? Soll denn wirklich die jetzige Welt nur infolge der Finanzen ein Ende nehmen?«
»Oh, selbstverständlich habe ich nur ein kleines Eckchen des ganzen Bildes geschildert, aber auch dieses Eckchen ist ja mit dem Ganzen verbunden, sozusagen durch
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