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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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mir die Haustür auf.

Neuntes Kapitel
     
I
     
    Der Tag hatte mit einer Katastrophe geendet, aber es blieb noch die Nacht. Hier meine Erinnerungen an die Ereignisse dieser Nacht.
    Ich glaube, es war eben Mitternacht vorbei, als ich auf die Straße trat. Die Nacht war hell, still und kalt. Ich lief beinahe und hatte es furchtbar eilig, aber – ich schlug nicht die Richtung nach Hause ein. »Warum soll ich nach Hause gehen? Kann es denn jetzt für mich ein Zuhause geben? Die Menschen in jenem Hause leben ; ich würde morgen aufwachen, um ebenfalls weiterzuleben – aber ist das etwa jetzt für mich möglich? Mein Leben ist zu Ende; weiterzuleben ist für mich jetzt unmöglich.« So irrte ich in den Straßen umher, ohne im geringsten darauf zu achten, wohin ich ging, und ich weiß nicht einmal, ob ich überhauptirgendwohin wollte. Es war mir sehr heiß, und ich schlug alle Augenblicke meinen schweren Schuppenpelz auseinander. »Jetzt gibt es für mich keine Tätigkeit mehr, die irgendeinen Zweck haben könnte«, das war damals meine Empfindung. Und sonderbar: es schien mir, als gehöre alles ringsumher, sogar die Luft, die ich atmete, gewissermaßen einem andern Weltkörper an, als befände ich mich plötzlich auf dem Mond. Alles dies, die Stadt, die Passanten, der Gehsteig, auf dem ich lief, alles dies gehörte nicht mehr mir . ›Das da ist der Schloßplatz, das da ist die Isaakskirche«, dachte ich undeutlich, »aber die gehen mich jetzt nichts mehr an‹, alles war mir gewissermaßen fremd geworden, alles gehörte auf einmal nicht mehr mir . »Ich habe Mama, ich habe Lisa, nun ja; aber was sind mir jetzt Lisa und meine Mutter? Es ist alles zu Ende, alles ist mit einem Schlag zu Ende; nur das eine bleibt bestehen: daß ich lebenslänglich ein Dieb bin.
    Wodurch soll ich beweisen, daß ich kein Dieb bin? Ist das jetzt überhaupt möglich? Soll ich nach Amerika gehen? Was kann ich dadurch beweisen? Wersilow wird der erste sein, der glaubt, daß ich gestohlen habe! Und meine »Idee«? Was für eine »Idee«? Was hat die »Idee« jetzt noch zu bedeuten? Wenn ich nach fünfzig Jahren, nach hundert Jahren auf der Straße ginge, so würde sich immer jemand finden, der mit dem Finger auf mich wiese und sagte: »Das ist ein Dieb. Er hat die Verwirklichung seiner Idee damit begonnen, daß er beim Roulett stahl ...««
    War ich von Ingrimm erfüllt? Ich weiß es nicht; Vielleicht ja. Sonderbar: ich habe immer, vielleicht schon von meiner frühesten Kindheit an, eine besondere Charaktereigentümlichkeit gehabt: wenn mir jemand etwas Böses antat, dabei alles Maß überschritt, mich auf das tiefste beleidigte, so wurde bei mir ein unbezwingliches Verlangen rege, mich der Beleidigung passiv zu fügen und sogar den Wünschen des Beleidigers entgegenzukommen: »Da! Sie haben mich gedemütigt, also will ich mich selbst noch tiefer demütigen; sehen Sie her, weiden Sie sich an dem Anblick!« Touchard schlug mich und wollte mir zeigen, daß ich ein Lakai und kein Senatorensohn sei, und siehe da, ich übernahm sofort von selbst die Rolle eines Lakaien. Ich reichteihm nicht nur beim Ankleiden die Kleider zu, sondern ergriff auch aus freien Stücken die Bürste und bürstete ihm das letzte Stäubchen ab, ohne daß er mich darum gebeten oder es mir befohlen hätte; ich lief manchmal von selbst in lakaienhaftem Eifer mit der Bürste hinter ihm her, um ein letztes Fusselchen von seinem Frack zu entfernen, so daß er selbst manchmal Einhalt gebot: »Laß nur gut sein, Arkadij, laß nur gut sein!« Wenn er manchmal nach Hause kam und seinen Rock auszog, säuberte ich diesen, legte ihn sorgsam zusammen und schlug ihn in ein kariertes Seidentuch. Ich wußte, daß meine Kameraden sich deshalb über mich lustig machten und mich verachteten, sehr genau wußte ich das, aber das war mir ganz recht: »Wenn man will, daß ich ein Lakai bin, nun, dann bin ich eben ein Lakai, und wenn man will, daß ich ein Knecht bin, dann bin ich eben ein Knecht.« Einen derartigen passiven Haß und heimlichen Ingrimm konnte ich jahrelang in mir bewahren. Und wie war es jetzt? Bei Serschtschikow hatte ich in heller Wut durch den ganzen Saal geschrien: »Ich werde alle anzeigen, das Roulett ist polizeilich verboten!« Und ich kann versichern, daß auch da etwas Ähnliches vorlag: man hatte mich erniedrigt, mich visitiert, mich für einen Dieb erklärt, mich moralisch getötet – »nun, so mögen Sie es denn alle wissen, daß Sie es erraten haben; ich bin nicht nur

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