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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Volk fand sich zusammen, und zuletzt waren wir unser beinahe zweihundert, die wir alle hinzogen, um die heiligen Gebeine der beiden großen Wundertäter Anikij und Grigorij zu küssen. Wir übernachteten auf freiem Feld, und ich erwachte am Morgen ganz früh; alle schliefen noch, und selbst die liebe Sonne schaute noch nicht hinter dem Wald hervor. Ich hob den Kopf in die Höhe, mein Lieber, ließ meinen Blick rings umherwandern und seufzte: überall eine unsägliche Schönheit! Alles so still, die Luft so leicht; die Gräschen wachsen – wachset, ihr Gräschen Gottes; ein Vögelchen singt – singe, du Vögelchen Gottes; ein Kindlein quäkt auf dem Arm der Mutter – Gott schütze dich, du kleines Menschlein, wachse auf und werde glücklich, du Kindlein! Und es war mir, als empfände ich zum erstenmal in meinem Leben das alles in meinem Herzen ... Ich legte mich wieder hin und schlief so angenehm wieder ein. Es ist schön auf der Welt, mein Lieber! Wenn's mit meiner Gesundheit besser wird, möchte ich im Frühling wieder auf die Wanderung gehen. Und daß alles ein Geheimnis ist, das macht die Sache noch schöner; das Herz bangt und staunt, und diese Bangigkeit macht das Herz heiter: ›Alles ist in dir, o Gott, und ich selbst bin in dir, und nimm du mich auf!‹ Murre nicht, junger Mann: dadurch, daß es ein Geheimnis ist, wird es nur um so schöner«, fügte er gerührt hinzu.
    »›Dadurch, daß es ein Geheimnis ist, wird es nur um so schöner ...‹ Das werde ich behalten; diese Worte werde ich mir einprägen. Sie drücken sich sehr ungenau aus, aber ich verstehe Sie ... Es überrascht mich, daß Sie weit mehr wissen und verstehen, als Sie ausdrücken können; nur reden Sie wie im Fieber ...«, entfuhr es mir unwillkürlich beim Anblick seiner fieberhaft glänzenden Augen und seines blaß gewordenen Gesichts. Aber er hatte, wie es schien, meine Worte gar nicht gehört.
    »Weißt du auch wohl, lieber junger Mensch«, begann er wieder, als setzte er seine frühere Rede fort, »weißt duauch wohl, daß es für die Erinnerung an einen Menschen auf dieser Erde eine Grenze gibt? Die Grenze für die Erinnerung an einen Menschen ist auf nur hundert Jahre angesetzt. Hundert Jahre nach seinem Tode können sich seiner noch seine Kinder oder Enkel erinnern, die noch sein Gesicht gesehen haben, aber dann kann zwar das Gedächtnis an ihn noch fortleben, aber nur durch Reden und Gedanken, da alle, die sein lebendes Antlitz gesehen haben, schon dahingegangen sind. Und sein Grabhügel auf dem Friedhof wächst mit Gras und Kraut zu, und der weiße Stein darauf zerbröckelt, und alle Leute und sogar seine eigenen Nachkommen vergessen ihn, und später wird selbst sein Name vergessen, denn nur wenige Namen erhalten sich im Gedächtnis der Menschen – nun, mag es so sein! Aber mag ich auch vergessen werden, ihr meine Lieben, ich werde euch doch auch noch im Grab liebhaben. Ich werde eure fröhlichen Stimmen hören, ihr Kinderchen, ich werde eure Schritte bei den Gräbern eurer Väter am Allerseelentag hören; lebt nur einstweilen noch im Sonnenschein und freut euch; ich aber werde zu Gott für euch beten, und in euren Träumen werde ich zu euch kommen ... wenn ich auch tot bin – die Liebe überdauert den Tod! ...«
    Die Hauptsache war, daß ich mich in demselben fieberhaften Zustand befand wie er; statt wegzugehen oder ihm beruhigend zuzureden, vielleicht auch ihn ins Bett zu bringen, da er schon vollständig wie im Fieberwahn redete, ergriff ich plötzlich seine Hand, beugte mich zu ihm hinab, drückte sie und sagte in aufgeregtem Flüsterton und mit mühsam verhaltenen Tränen:
    »Ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Ich habe vielleicht schon lange auf Sie gewartet. Von den andern hier liebe ich niemanden: sie besitzen keine edle Schönheit ... Ich werde nicht mit ihnen denselben Weg gehen, ich weiß nicht, wohin ich gehen werde, ich werde mit Ihnen gehen ...«
    Aber zum Glück kam in diesem Augenblick Mama herein; sonst weiß ich nicht, was ich schließlich noch getan hätte. Es war ihr am Gesicht anzusehen, daß sie eben erst aufgewacht war und sich in großer Aufregung befand; in der Hand hatte sie ein Fläschchen und einen Eßlöffel; alssie uns erblickte, rief sie: »Hab ich es doch gewußt! Ich habe ihm das Chinin nicht rechtzeitig eingegeben, und nun hat er gleich wieder starkes Fieber! Ich habe die Zeit verschlafen, Makar Iwanowitsch, mein Täubchen!«
    Ich stand auf und ging hinaus. Sie gab ihm die Medizin und

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