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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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aufzugeben und ohne überflüssige Worte zu machen. Sein ganzer Geist und seine ganze moralische Anschauungsweise sind unverändert geblieben, obwohl alles, was an idealen Auffassungen in ihm lebte, noch stärker hervorgetreten ist. Ich sage geradeheraus, daß ich ihn niemals so liebgehabt habe wie jetzt, und es tut mir leid, daß mir weder Zeit noch Platz bleibt, um mehr über ihn zu sagen. Indessen will ich doch einen Vorfall erzählen, der sich neulich zugetragen hat (es haben sich viele ähnliche ereignet): zu den Großen Fasten war er schon wieder genesen und erklärte in der sechsten Woche, er wolle sich durch Fasten und Kirchenbesuch zum Abendmahl vorbereiten. Das hatte er, glaube ich, seit dreißig Jahren oder noch länger nicht getan. Mama freute sich sehr; es wurden nun Fastenspeisen bereitet, jedoch ziemlich teure, feine. Ich hörte vom Nebenzimmer aus, wie er am Montag und Dienstag vor sich hinsang: »Siehe, der Bräutigam kommt«, und von der Melodie und dem Text entzückt war. An diesen beiden Tagen sprach er mehrmals sehr schön über Religion, aber am Mittwoch stellte er diese fromme Vorbereitung plötzlich ein. Es hatte ihn auf einmal irgend etwas irritiert, irgendein »amüsanter Kontrast«, wie er sich lachend ausdrückte. Irgend etwas in dem Äußern des Geistlichen, in dem kirchlichen Milieu hatte ihm mißfallen; aber er sagte nur, sobald er nach Hause zurückgekehrt war, mit einem stillen Lächeln: »Meine Freunde, ich liebe Gott sehr, aber ich bin dazu nicht geeignet.« Gleich an demselben Tage gab es zu Mittag Roastbeef. Aber ich weiß, daß Mama sich auch jetzt häufig neben ihn setzt und mit leiser Stimme und einem stillen Lächeln mit ihm manchmal von ganz abstrakten Gegenständen zu reden anfängt; jetzt hat sie auf einmal ihm gegenüber Mut gefaßt , aber wie das gekommen ist, das weiß ich nicht. Sie setzt sich neben ihn und spricht mit ihm, meist im Flüsterton. Er hört lächelnd zu, streichelt ihr Haar, küßt ihre Hände, und dievollste Glückseligkeit leuchtet auf seinem Gesicht. Manchmal kommen bei ihm auch Anfälle vor, die beinahe einen hysterischen Charakter haben. Er nimmt dann ihre Photographie, eben jene, die er an jenem Abend geküßt hat, blickt sie unter Tränen an, küßt sie, überläßt sich seinen Erinnerungen und ruft uns alle zu sich, aber reden tut er in solchen Augenblicken nur wenig ... Katerina Nikolajewna scheint er vollständig vergessen zu haben und hat ihren Namen nicht ein einziges Mal mehr erwähnt. Über seine Eheschließung mit Mama ist ebenfalls bei uns noch kein Wort gesprochen worden. Es war beabsichtigt, ihn zum Sommer ins Ausland zu bringen, aber Tatjana Pawlowna war entschieden dagegen, und er hatte auch selbst keine Lust. Sie werden statt dessen in einer Sommerfrische auf dem Lande leben, in der Umgegend von Petersburg. Beiläufig bemerkt: wir leben einstweilen sämtlich von Tatjana Pawlownas Vermögen. Ich füge noch eines hinzu: es tut mir schrecklich leid, daß ich mir im Laufe dieser Aufzeichnungen oft erlaubt habe, von diesem weiblichen Wesen respektlos und von oben herab zu reden. Aber beim Schreiben habe ich mich selbst so dargestellt, wie ich in jedem der Zeitpunkte war, die ich schilderte. Während ich nun diese Aufzeichnungen zum Abschluß bringe und die letzten Zeilen niederschreibe, ist es mir auf einmal zum Bewußtsein gekommen, daß ich gerade durch den Prozeß des Ins-Gedächtnis-Zurückrufens und Niederschreibens an meiner eigenen Erziehung gearbeitet und mich umgebildet habe. Vieles, was ich geschrieben habe, kann ich jetzt nicht mehr vertreten, namentlich nicht den Ton mancher Sätze und Seiten, aber ich mag kein einziges Wort ausstreichen und umändern.
    Ich habe bereits erwähnt, daß er von Katerina Nikolajewna kein Wort sagt; aber ich glaube sogar, daß er von seiner Leidenschaft vielleicht vollständig geheilt ist. Von Katerina Nikolajewna sprechen nur ich und Tatjana Pawlowna manchmal, und auch wir nur insgeheim. Jetzt befindet sich Katerina Nikolajewna im Ausland. Ich bin vor ihrer Abreise einige Male bei ihr gewesen und habe mit ihr gesprochen. Aus dem Ausland habe ich schon zwei Briefe von ihr erhalten und sie beantwortet. Aber überden Inhalt unserer Briefe sowie über das, worüber wir vor ihrer Abreise beim Abschied gesprochen haben, schweige ich: das ist bereits eine andere Geschichte, eine ganz neue Geschichte, und sie gehört vielleicht in ihrer ganzen Ausdehnung noch der Zukunft an. Ich bewahre über gewisse Themen

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