Der Junge aus dem Meer - Roman
Laborratte.
Bevor ich aus dem Alten Seemann hierhergekommen war, hatte ich überlegt, ein paar von den Kleidern meiner Großmutter mitzubringen, dann aber entschieden, dass das wohl ein wenig unheimlich wäre. Doch so schön CeeCees Kleider auch waren, keines verfügte über die altmodische Magie von Isadoras. Ich mochte die Kleider meiner Großmutter aus demselben Grund, aus dem ich gerne in Secondhandshops einkaufte: Jedes Teil hatte eine Geschichte.
Als Althea mit weiterem Eis zurückkehrte, hatte CeeCee ein lavendelfarbenes Seidenkleid mit breiten Trägern als ›dasjenige welches‹ auserkoren. Ich mochte die Vorstellung nicht, mich vor den drei Mädels auszuziehen, doch es gelang mir, meinen Umkleidekabinentrick anzuwenden, wobei ich das Kleid über den Kopf zog, schnell mein Hemd aufknöpfte und mich aus meinen Jeans schälte. Als ich das Kleid endlich anhatte, sah ich, dass das Preisschild noch befestigt war, und musste angesichts der fetten dreistelligen Zahl kräftig schlucken.
»Hört mal«, sagte ich und zappelte herum, als CeeCee mir den Reißverschluss hochzog und Jacqueline eine Auswahl an Schuhen anschleppte. »Wir wollen es nicht übertreiben, okay? Ich möchte immer noch nach mir selbst aussehen.« Ich hob die Hand, um die silberfarbenen Zehensandalen abzuwehren, die mir Jacqueline präsentierte. Ichhatte meine schwarzen flachen Schuhe angezogen, wohl wissend, dass die Mädchen darauf weniger gereizt reagieren würden als auf meine Chucks.
»Ach, nun komm schon, Miranda«, rief CeeCee, löste meinen Pferdeschwanz und schob mich in einer fließenden Bewegung auf das Bett zu. »Genieß mal ein bisschen das Leben.«
Ich setzte mich und streckte die Hand nach meinem Haarband aus, doch CeeCee reichte es Jacqueline, die es in die Tasche ihres orangefarbenen Kleids steckte.
»Es ist ganz gesund, dein Äußeres mal ein wenig zu pimpen«, säuselte Jacqueline und reichte CeeCee eine große Dose Schaumfestiger.
»Genau«, bestätigte CeeCee und pumpte einen Klecks Festiger auf ihre Handfläche. Unwillkürlich wich ich zurück, doch sie zog mich wieder zu sich. »Für eine Nacht kannst du jemand anderes sein«, ergänzte sie. »So als wärst du auf einem Maskenball oder«, ihre Augen leuchteten begeistert, »als hätte dich jemand verzaubert, so wie Cinderella oder Arielle.«
»Wer ist Arielle?«, fragte ich und vergaß dabei zu protestieren, während CeeCee den Schaumfestiger in mein Haar rieb und Jacqueline mit einem Mascara auf mich losging.
»Könnt ihr nicht mal ’nen Gang runterschalten?«, blaffte Virginia neben mir und blätterte lautstark eine Seite ihres Magazins um.
»Hallo? Die Kleine Meerjungfrau?«, rief CeeCee, verdrehte die Augen und lockerte mein Haar auf.
»Also ehrlich, was hast du eigentlich zwischen fünf und zwölf gemacht, wenn du keine alten Disneyfilme angeschaut hast?«, fragte Jacqueline und rollte den Mascarastab übermeine Wimpern. Die Frage war nicht böse gemeint – sie schien aufrichtig verwirrt.
»Wissenschaftliche Experimente«, murmelte ich mit einem Schulterzucken.
Ich hörte Virginia schnauben.
»Du bist echt merkwürdig«, sagte CeeCee liebevoll und ging zurück an ihren Frisiertisch, um ein Töpfchen Lipgloss zu holen.
Meerjungfrau
. Ich verspürte einen komischen kleinen Schmerz. »Hey«, nuschelte ich, während CeeCee den Lipgloss auftrug. »Kann ich euch mal was total Krankes fragen?«
»Was denn?«, fragte Jacqueline und hielt eine Puderquaste über meinen Wangenknochen.
Ich fing an, an meinen Nägeln zu zupfen – meine Maniküre löste sich ohnehin langsam auf –, doch CeeCee schob meine Hand weg.
»Hat schon mal jemand von euch«, setzte ich an und versuchte, ganz entspannt zu klingen, »etwas von EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND gehört?«
»Nein«, erwiderten CeeCee und Jacqueline gleichzeitig, doch Virginia sagte: »Na, klar.« Ich wirbelte herum, um Virginia anzublicken, während CeeCee einen Schmollmund zog, weil nun der Lipgloss verschmiert war.
»Das ist dieses Buch, das irgend so’n Typ zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat«, sagte Virginia gedehnt und räkelte sich auf dem Bett. »Angeblich war es ziemlich umstritten, weil er es wie eine anthropologische Studie verfasst hat, aber in Wahrheit geht’s bloß um diesen ganzen Aberglauben.«
Ich kniff die Augen zusammen und realisierte, dass ichsie wohl das erste Mal von etwas anderem als Jungs sprechen hörte.
»Warte mal«,
Weitere Kostenlose Bücher