Der Junge aus dem Meer - Roman
überlegte, wie wohl Leo reagieren würde, wenn er mich an diesem Abend sehen könnte. Würde er so viel Aufhebens um meine Veränderung machen? Ich schaute wieder zu den Fischern hinüber, die ihre Kisten jetzt zum McCloud Way trugen, dem unbefestigten Weg, der zu Leos Haus führte. Niemand von den Sommergästen schien ihre Anwesenheit überhaupt zu bemerken.
»Können wir jetzt an Bord gehen?«, blaffte Virginia und sah zu T. J. und mir herüber. »Meine Schuhe bringen mich um.« Sie klick-klackte auf das Boot zu und streifte dabei Rick, der ihr grinsend hinterherblickte. Auch T. J. schien amüsiert zu sein.
»Wir warten noch auf ein paar andere Passagiere«, erklärte Lyndon und winkte auch schon in Richtung des Kieswegs, wobei sich sein Gesicht aufhellte. »Da kommen sie schon!«
Ich drehte mich um und sah zwei Mädchen, die ich von der Erben-Party vage wiedererkannte. Sie trippelten auf uns zu, trugen weiße Strohhüte, weiße Rüschenkleider und weißeHandschuhe. Es war klar, dass sie sich so angezogen hatten, um CeeCee und ihre Freundinnen zu übertrumpfen – und das mit Erfolg.
»Sallie! Kay!«, rief CeeCee mit gespielter Fröhlichkeit. »Was für eine … nette Überraschung.«
»Meine Damen«, ließ sich T. J. verlauten und beugte den Kopf. Ich sah ihn an und wollte laut loslachen. War dies die einzige Begrüßung in seinem Repertoire?
Lyndon und Rick eilten ebenfalls zur Begrüßung herbei, die Sallie und Kay lediglich mit einem überlegenen Lächeln quittierten. Ohne mich umzudrehen, konnte ich spüren, wie sich CeeCee und ihre Freunde verspannten und wie Schafsböcke, die einen Kampf erwarteten, in Stellung gingen. Mir kam der Gedanke, dass das Leben der Thronerben ein wenig wie das in der Wildnis war: Ständig gab es eine Bedrohung durch unbekannte Feinde, die sich nicht scheuten, den Herrschaftsbereich der angestammten Tiere anzugreifen.
Wie bei der Arche Noah bestiegen wir in Zweiergruppen das Boot: Bobby und CeeCee führten an, gefolgt von Macon und Jacqueline. T. J., wieder ganz der galante Gentleman, nahm meine Hand und geleitete mich an Bord des schwankenden Schiffchens. Dann halfen Lyndon und Rick Sallie und Kay an Deck und ließen eine schäumende Virginia zurück, die nun allein auf das Boot klettern musste. Als wir uns alle auf die niedrigen Holzbänke gesetzt hatten, musste ich lächeln und fühlte mich ein wenig verräterisch.
Der Himmel war fast ganz dunkel, und die ersten kleinen Sterne gaben sich zu erkennen, als Bobby das Boot vom Kai losmachte.
Romantisch,
dachte ich und spürte T. J. rechts neben mir sitzen. Die Meeresbrise trug den Duft seines Eau de Cologne zu mir herüber. Ich überlegte, ob es schon immerso schwer und beißend gerochen hatte. Vielleicht hatte er heute Abend mehr als sonst aufgetragen.
Am Heck postierte sich Bobby hinter dem Steuerruder. Winzige Lichter erstrahlten am Bootsrumpf, und der Motor kam brausend auf Touren. Alle – selbst ich – jubelten, und Ricks: »Ahoi, Matrosen!« verursachte Lachsalven bei Sallie und Kay.
Wir schnitten mit einem Tempo durch das Wasser, das die
Princess of the Deep
niemals hätte erreichen können. Bobby ließ uns im Rhythmus der Wellen ein wenig auf- und abhüpfen, bevor wir uns unter die anderen Boote draußen auf dem Meer mischten. Mir wurde klar, dass ich mich, sei es aufgrund der richtigen Gene oder der Fügung des Schicksals, genau dort befand, wo in diesem Augenblick alle auf Selkie sein wollten. Und in gleichem Maße verspürte ich Schwindel und Schuldgefühle.
»Los Leute, köpft den Veuve und bedient euch mit dem Essen!«, rief Bobby durch den Fahrtwind und hielt das Ruder fest. CeeCee schwankte auf ihn zu und legte ihm die Arme um den Hals.
»Was ist denn der Veuve?«, fragte ich T. J., der mich mit vorstehenden Augen anblickte und in Lachen ausbrach.
»Du machst Witze, oder?«, fragte er. Als ich, leicht genervt, den Kopf schüttelte, nahm er die Champagnerflasche vom Kirschholzboden des Bootes, wo Bobby sie vorher hingestellt hatte. »Veuve Cliquot ist die
Marke
«, erklärte T. J., so als hätte ich das mindestens seit meiner Geburt wissen müssen. Uns gegenüber kicherten Virginia, Sallie und Kay – für einen kurzen Moment in ihrer Verächtlichkeit vereint.
»Ach so«, murmelte ich und fummelte an einem von CeeCees Glücksbringern herum. Durch das Armband warmein Handgelenk ganz verschwitzt. Wieso trugen Südstaatenmädchen diese Dinger? »Natürlich.«
»Du bist so ein Snob, T. J.«, flötete
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