Der Junge aus dem Meer - Roman
warf CeeCee ein und drehte mein Kinn wieder in ihre Richtung. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Geht’s da nicht um einen Piratengeist, der auf der Insel herumspukt?«
Jacqueline lachte und schmierte blauen Lidschatten auf das Fältchen über meinen Lidern. »Hängt da deswegen dieses komische Ungeheuerschild am Hafen?«
»Ich glaube, es gibt da irgendeine Geschichte über einen Piraten, der eine Meerjungfrau heiratete, und wie Meerjungfrauen im Wasser draußen vor Siren Beach leben.« Virginia gähnte. »Und vielleicht auch irgendwas über fliegende Fische oder was auch immer. Mama hat mir diese Geschichten erzählt, als ich klein war.«
Ich schloss meine Augen, damit Jacqueline den Lidschatten verteilen konnte. Hatte mir meine Mutter eigentlich Geschichten erzählt, während ich aufwuchs? Wenn sie es versucht hatte, so war ich mir sicher, dass ich sie entweder unterbrochen oder ausgeblendet hatte.
»Die Geschichten sind also nicht wahr, oder?«, fragte ich und hoffte, immer noch ganz beiläufig zu klingen und nicht so, als hätte ich das jemals in Erwägung gezogen.
»Oh, bitte.« Ich hörte Virginia vom Bett rutschen und sah, wie sie die Lautstärke an CeeCees Anlage aufdrehte. »Jeder weiß doch, dass es bloß ein derber Quatsch ist. Dasselbe, was den Leuten früher in Kuriositätenkabinetten vorgespielt wurde.«
»Okay, klar.« Ich lachte, erleichtert, doch zugleich immer noch unruhig. »Ich hab auch nicht wirklich geglaubt …«
»Fertig!«, verkündete CeeCee, trat einen Schritt zurück und begutachtete mich lächelnd. »Nur noch
eine
Sache,dann ist es perfekt …« Sie stürzte zu ihrem Frisiertisch, nahm ihr silbernes Glücksarmband und brachte es mir.
»CeeCee, ich kann dein Armband nicht tragen«, sagte ich, während sie es um mein Handgelenk legte und den Verschluss einhakte. »Was ist, wenn ich es verliere?«
»Sei nicht albern«, spöttelte CeeCee. »Ich hab noch andere. Außerdem sollte ein echtes Südstaatenmädchen zu besonderen Gelegenheiten immer mit einem Glücksarmband von James Avery herumlaufen.«
»Virginia und ich haben auch eins«, bestätigte Jacqueline.
»Ich bin kein echtes …«, setzte ich an, betrachtete dann aber eingehend die Anhänger. Es gab eine winzige Geburtstagstorte mit Diamanten als Kerzen; eine kleines Fährschiff, das der
Princess of the Deep
ähnelte; einen Violinenschlüssel; ein Paar Schlittschuhe.
CeeCee bemerkte, wie ich auf das Armband starrte, und lächelte triumphierend. »Hübsch, nicht? Am schönsten finde ich den Violinschlüssel, obwohl ich Klavierstunden eigentlich nicht mag. Meine Großmutter hat ihn mir geschenkt.«
Ich nickte. Eine Großmutter zu haben, die mir Glücksanhänger schenkte – oder mir einen Schal strickte oder Kuchen backte oder Dinge wie ›Jedes schöne Gefühl hat seine Tränen‹ sagte –, war eine mir unbekannte Erfahrung. Meine Merchant-Großeltern waren gestorben, bevor ich auf die Welt kam, und Isadora war … Isadora. Wenn Isadora aber ein Teil meines Lebens gewesen wäre, dann hätte sie mir vielleicht ein James-Avery-Armband geschenkt, sodass auch ich ein echtes Südstaatenmädchen hätte sein können. Ein seltsamer Gedanke.
»Und nun«, sagte CeeCee, fasste meine Hand und zog mich hoch, »darfst du einen offiziellen Blick auf dich selbstwerfen.« Sie führte mich zum Frisiertisch, Jacqueline trat beiseite, und ich stand vor dem Spiegel.
Ich schnappte nach Luft.
Ich war mir nicht sicher, welche Art von Hexerei CeeCee angewandt hatte, aber mein Haar fiel in weichen dunklen Locken herab. Meine Lippen waren karmesinrot, meine Wimpern lang. Das Rouge auf meinen Wangen ließ meine Haut cremig-weiß aussehen und nicht leichenblass wie sonst. Das Glücksarmband sah an meinem Handgelenk ganz natürlich aus, und das lavendelfarbene Kleid, obwohl zu kurz und am Busen etwas zu weit – CeeCee und ich hatten ziemlich unterschiedliche Proportionen –, schmeichelte meiner Figur. Ich wirkte …
»Großartig!«, rief CeeCee.
»Viel, viel besser«, kommentierte Virginia und leistete uns vor dem Spiegel Gesellschaft.
»Wie eine Prinzessin«, warf Jacqueline ein.
Wie Isadora,
dachte ich.
Ich sah aus wie meine Großmutter.
Es war unbestreitbar. Der deutliche, klare Beweis blickte mich an. Die Isadora vom Foto im Wohnzimmer, die Isadora von dem Gemälde war dort im Spiegel. Ich spürte den Puls in meiner Kehle pochen. Jetzt verstand ich. Ich verstand die Vergleiche. Ich hatte tatsächlich ein paar von Isadoras Genen
Weitere Kostenlose Bücher