Der Junge aus dem Meer - Roman
einen Schluck Wasser.
Leos Augen waren voller Unruhe, als er sein Glas nahm. »So lala. Er fragt ständig nach diesem schlauen Mädchen mit den dunklen Haaren und den dunklen Augen. Kann dich anscheinend nicht vergessen.«
»Ich weiß, wie sich das anfühlt«, sagte ich leise und hielt das kühle Glas fest in den Händen.
Für einen langen Moment waren wir still, tranken unser Wasser und betrachteten die glänzende Sonne über dem Meer.
Dann fing Leo an zu sprechen, seine Stimme klang tief und gedankenvoll. »Komisch«, sagte er und stellte sein leeres Glas auf den Boden der Veranda. »Der Ausblick von unseren Häusern ist gar nicht so verschieden, oder? Wir schauen beide auf dasselbe Meer.«
Wie so oft schien eine versteckte Bedeutung hinter seinen Worten zu liegen. Beinahe so, als spräche er in Rätseln. Während ich ihn von der Seite ansah, spürte ich mein Herz fast zerspringen. Ich musste wieder an unsere Auseinandersetzungzurückdenken, als ich ihm gesagt hatte, ich würde einen Fehler machen. Ich wusste, dass ich jetzt etwas sagen musste, um die Dinge geradezurücken, ungeachtet dessen, was er auch erwidern mochte.
»Leo, es tut mir so leid …«, setzte ich an, doch er schüttelte den Kopf.
»Nein, mir tut es leid«, sagte er mit fester Stimme und sah mich an. Seine grünen Augen brannten förmlich. »Du hattest recht, Miranda. Wir sind einfach zu weit gegangen.«
»Aber ich war nicht fair zu dir«, erwiderte ich. Die Emotion in meiner Stimme klang mir fremd in den Ohren. »Ich glaube, ich bin in diesem Moment einfach ausgeflippt, weil ich, äh, dachte …« Ich hielt inne, war mir immer noch nicht sicher, ob oder wie ich meine verrückte Meermann-Theorie formulieren sollte. Abgesehen davon kam mir Leo, wie er jetzt so neben mir saß, völlig normal vor. So menschlich.
»Ich verstehe«, sagte Leo sanft. »Dir ist klar geworden, wie verschieden wir sind.«
»Aber das sind wir gar nicht!«, rief ich. Ich stellte ebenfalls mein Glas ab und legte dann, meinem Bedürfnis nachgebend, die Hand auf seinen warmen Arm. »Das hast du doch vor ein paar Sekunden selbst gesagt. Wir sehen die Welt auf die gleiche Weise. Wir lieben beide die Wissenschaften, und wir bringen uns gegenseitig zum Lachen, und …«
»Wir sind verschieden, Miranda«, unterbrach mich Leo wieder. Diesmal wirkten seine Augen etwas traurig. »Unsere Leben sind so verschieden, dass du es dir nicht mal vorstellen kannst.«
»Was meinst du damit?«, flüsterte ich. Mein Puls raste, als ich ihn ansah
»Nur dass …« Leo fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Wie immer, wenn er sich zu ärgern schien, bewegte sich derMuskel in seiner Wange. »Sieh mal, wir haben uns noch nicht mal richtig vorgestellt. Wir sind uns am Strand begegnet – dem großen Gleichmacher. Am Strand ist alles ganz einfach. Auf dem Rest der Insel haben die Unterschiede eine Bedeutung.«
»Okay.« Ich setzte mich ganz gerade auf, nahm meine Hand von seinem Arm und streckte sie, bereit für einen Handschlag, aus. »Dann stellen wir uns eben einander vor. Und fangen noch mal von vorn an.«
Ein Lächeln schlich sich auf Leos Gesicht. »In Ordnung«, sagte er und legte seine Hand in meine. Wie immer, wenn wir uns berührten, schien sich elektrischer Strom in mir auszubreiten. »Mein Name ist Leomaris Macleod und ich habe mein ganzes Leben auf Selkie Island gewohnt. Meine Familie ist hier seit Gründung des Orts ansässig. Ich gehe auf die High School in Fisherman’s Village. Ich stehe auf Wissenschaften, mag aber auch Bücher und Musik. Ich glaube, dass ich eines Tages einen Roman schreiben möchte.«
Als ich in Leos ernste, leuchtende Augen blickte, schnürte sich mir die Kehle zu.
Er ist brillant
, erkannte ich. Er verfügte über eine Brillanz, die Noten oder Testergebnisse überflüssig machte. Er war anders als jeder Junge, der mir bisher begegnet war.
»Jetzt bist du an der Reihe«, forderte Leo mich auf; sein Tonfall schwang zwischen spielerisch und ernst.
»Miranda Merchant«, sagte ich und schüttelte nachdrücklich seine Hand. »Ich bin aus New York, aber die Familie meiner Mutter kommt schon seit Ewigkeiten nach Selkie. Ich dachte, dass ich genau wüsste, was ich mit meinem Leben machen will.« Ich machte eine Pause und biss mir auf die Lippe. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«Wieder hielt ich inne, sah Leo an und fragte mich, ob ich den Mut aufbrächte, das zu sagen, was mir auf der Zunge lag.
Und dann, ganz plötzlich, tat ich es.
»Mit
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