Der Junge aus dem Meer - Roman
… den nächsten Schritt machen wollte.« Ich räusperte mich. »Aber ich war noch nicht so weit.«
Leo nickte wieder und sah mich aufmerksam an.
»Wir haben uns ein bisschen deswegen gestritten.« In Gedanken kehrte ich in das letzte Schuljahr zurück, dachte an dieses unbehagliche Gefühl, das ich im Frühjahr bekommenhatte. »Ich wollte kein großes Drama daraus machen … wollte nicht so ein Mädchen sein, dass wegen eines Typen ausflippt.«
»Selbst wenn du es getan hättest, wärst du nicht diese Art von Mädchen«, warf Leo ein und hatte wieder sein schiefes Grinsen aufgesetzt.
Ich drückte seine Hand und erzählte weiter. »Dann gab es eines Abends im Mai Gregs Abschlussparty. Seine Eltern hatten ihm für das Wochenende die Wohnung überlassen. Im Laufe des Tages hatten wir eine kleine Meinungsverschiedenheit. Er hatte seine Physikprüfung nicht sonderlich gut bestanden und gab mir die Schuld daran.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich fragte ihn, wieso ihm das so wichtig sei, wo er doch ohnehin schon im College angenommen war. Aber offensichtlich ging es überhaupt nicht um die Prüfung. Das fand ich später heraus. Auf der Party gingen wir uns aus dem Weg. Greg hatte die halbe Oberstufe eingeladen – meine High School ist ziemlich groß – und dazu auch ein paar Freunde aus meiner Stufe. Einschließlich meiner besten Freundin Linda.«
»Oh«, machte Leo.
Ich nickte.
»Ich war in der Küche«, erzählte ich weiter und erinnerte mich an die ganzen Leute, den Geruch von Bier und Zigaretten, den hämmernden Beat des Hip-Hops aus dem Wohnzimmer. »Irgendwer brauchte Hilfe, um die Coronas aufzukriegen, und Linda konnte Bierflaschen sehr gut öffnen; das war irgendwie ihr Ding. Sie war immer viel cooler und selbstbewusster als ich, mit ihren roten Haarsträhnchen und dem Eyeliner.« Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete – ganz klein und unauffällig. Kleiner als eine Schwimmgarnele. »Ich sagte, ich würde losgehen und Lindasuchen. Als ich den Flur entlang in Richtung der Schlafzimmer lief, fiel mir auf, dass ich auch Greg schon eine Weile nicht gesehen hatte. Und obwohl ich immer ziemlich gut in Mathe war, hab ich da einfach nicht zwei und zwei zusammenzählen können.«
»Wieso hättest du auch?«, bestätigte Leo stirnrunzelnd.
Ich erinnerte mich, wie ich die Tür zu Gregs Zimmer mit den Schachbrettern und den Yankee-Postern geöffnet hatte, und ich erinnerte mich an das Bett. Das Bett, auf dem Greg gesagt hatte: »Na, komm schon, warum ziehst du nicht einfach deine Socken aus?« Eine Frage, in der eine andere mitschwang: Warum ich nicht einfach mit ihm schlafen wollte?
»Ich bin noch nicht dazu bereit«, hatte ich geantwortet.
Dann hatte Greg ein Mädchen gefunden, das bereit war.
Ich erinnerte mich, wie sich Eiseskälte in meinen Eingeweiden ausgebreitet hatte, als die Tür aufging. Jetzt spürte ich sie wieder, diese stechende Kälte. Als ob ich in einen eisigen Swimmingpool getaucht wäre.
»Ich hab Linda in Gregs Zimmer gefunden«, erzählte ich Leo. »Sie war mit Greg zusammen.« Ich schluckte und versuchte, den anwachsenden Kloß in meinem Hals zu unterdrücken.
Leo nickte und runzelte die Stirn. »Haben sie …?«
»Nicht ganz, aber sie waren kurz davor«, sagte ich. Mir wurde warm im Gesicht. »Ich hab’s nicht mal richtig gesehen. Sie lagen auf seinem Bett und hatten definitiv nicht mehr alle Klamotten an. Aber ich musste gar nicht mehr als das sehen. Ich hatte den Kern der Sache begriffen, verstehst du?« Ich hörte meine Stimme krächzen.
»Was hast du dann getan?«, fragte Leo und lehnte sich an mich.
»Ich sagte, es täte mir leid, sie zu stören. Dann hab ichmich umgedreht und bin weggegangen. Oder eigentlich weggerannt – ich glaube, ich schaffe es immer ganz gut, vor schwierigen Dingen wegzulaufen. Greg holte mich ein, bevor ich die Wohnung verlassen konnte. Er entschuldigte sich und hoffte, dass ich ihn jetzt nicht hassen würde. Ich glaube, er hat gedacht, dass ich anfangen würde zu heulen …« Bei diesem unseligen Wort versagte mir wieder die Stimme. »… und hysterisch werden würde, aber das ist nicht meine Art. Ich sagte ihm, ich würde verstehen, und dass ich hoffte, die beiden wären zusammen glücklich.«
Jetzt bahnten sich die Tränen ihren Weg, kamen genauso zwingend wie die Strömung.
»Miranda …« Leo streckte seine andere Hand aus, um mein Gesicht zu berühren, doch ich sah auf den Boden hinunter.
»Und ich habe nicht geweint, auch
Weitere Kostenlose Bücher