Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
nicht, als ich mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren und dann zur U-Bahn gelaufen bin. Ich hab nicht auf dem Heimweg geweint und nicht, als ich zu Hause ankam und meiner Mutter erklärte, ich hätte die Party wegen Magenschmerzen früher verlassen. Ich habe nicht geweint, als Linda mich auf meinem Handy anrief, und auch nicht, als sie schließlich heulte und mich bat, ihr zu vergeben.«
    »Was hast du zu ihr gesagt?«, fragte Leo behutsam. Ich hätte ihm gerne dafür gedankt, dass er so ein guter Zuhörer war – ich wusste gar nicht, dass Jungs so aufmerksam zuhören konnten –, aber ich hatte noch immer Angst, ihn anzublicken.
    »Ich sagte zu ihr, dass ich mir wie eine Idiotin vorkäme«, antwortete ich, während die erste Träne an meinem Gesicht hinunterlief. Die ganze Scham, der Schmerz und die Wut, die ich hinuntergestopft hatte, brachen an die Oberfläche. »Ich sagte zu ihr, dass ich wütend auf mich selbst sei, weil ich ihr vertraut hatte, weil ich an so alberne Dinge wie Freundschaft und Loyalität geglaubt hatte. Und ich sagte ihr, dass ich nie wieder mit ihr sprechen wollte.« Vergebens wischte ich mir über die tränenden Augen und zog die Nase hoch.
    »Und das hast du auch nicht?«, wollte Leo wissen.
    Ich schüttelte den Kopf, spürte, wie mir die Tränen über die Wange liefen und auf meinen Lippen landeten; sie schmeckten salzig wie Meerwasser. »An folgenden Montag in der Schule bin ich nicht nur Greg und Linda aus dem Weg gegangen, sondern allen unseren Freunden. Ich hab mich total verschlossen. Ich hatte furchtbare Angst zu zeigen, wie verletzt ich war.« Ich erinnerte mich wieder an die Kälte und die Einsamkeit jener Wochen. Wie ich durch die Gänge gelaufen war, die Bücher an meine Brust gedrückt, und die Blicke der Leute vermieden hatte. Die stumme, wortlose Miranda.
    »Und weißt du was?«, sagte ich und blickte schließlich auf.
    Leo zog die Augenbrauen hoch, seine schönen Augen waren voller Mitgefühl.
    »Ich habe die ganze Zeit nicht geweint.«
    Dann geschah das Unmögliche. Mit zitternden Schultern fing ich richtig an zu weinen. Ich weinte, als ob ich all diese heruntergeschluckten Schluchzer nachholen müsste. Ich weinte wegen all der Nächte, in denen ich mich beherrscht und meinen Geist gezwungen hatte, an etwas anderes zu denken. Und so sehr ich es auch verabscheute, vor anderen Leuten die Kontrolle zu verlieren, so wusste ich doch, dass ich bei Leo weinen könnte. Er würde mich nicht verurteilen oder anders von mir denken.
    Daher wehrte ich mich nicht, als er mich dicht an sich heranzog und festhielt. »Ist schon gut.« Seine Stimme war sanft und seine Lippen berührten mein Haar. »Alles wird gut.«
    »Ich mache dein T-Shirt ganz nass«, schluchzte ich und zog meinen Kopf ein Stück herum, damit sich meine Wange nicht gegen sein Leo-M.-Schild drückte.
    »Pssss«, sagte er mit einem kleinen Lachen und hielt mich noch fester.
    Ich war nicht sicher, wie lange wir so dasaßen, Leos Arm um mich gelegt und ich heulend an seiner breiten Brust. Doch nach und nach wurden meine Schluchzer schwächer und kamen in größeren Abständen, und meine Augen fühlten sich langsam trockener an.
    Als der Sturm vorübergezogen war, löste ich mich aus Leos Umarmung.
    »Besser?«, fragte er.
    »Besser«, gab ich zurück und tupfte mit dem Handrücken über meine Augen. Ich fühlte mich völlig ausgelaugt von dieser Heulattacke, aber irgendwie auch erleichtert. Frei.
    »Weißt du«, sagte Leo ruhig und streckte die Hand aus, um mein Gesicht zu streicheln, »es ist völlig in Ordnung, Gefühle zuzulassen. Auch wenn sie manchmal ganz schön erschreckend sein können.«
    Ich nickte und lächelte ihn dankbar an. »Ich schätze, ich lerne das gerade.« Ich nahm seine Hand und hielt sie an meine Wange. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Geschichte mal jemandem erzähle. Aber ich bin froh, dass ich sie dir erzählt habe.«
    »Das bin ich auch«, erwiderte Leo. »Es tut mir so leid, was dir passiert ist. Dieser Typ – Greg – hat dich nicht ansatzweiseverdient.« Leo lächelte mich an und seine Grübchen tauchten auf. »Miranda, dir sollte klar sein, dass dich nicht jeder verletzen wird. Ich meine, hoffentlich kannst du anderen Leuten noch immer … vertrauen.«
    Mein Herz schien zu bersten. »Ich vertraue dir«, sagte ich und meinte es auch so. »Ich vertraue dir.«
Auch wenn ich dich nicht ganz verstehe.
    Leo beugte sich vor und küsste mich. Einmal, zweimal, sein Mund war warm und einladend.

Weitere Kostenlose Bücher