Der Junge aus dem Meer - Roman
Feigling zu sein. »Du bist genau wie all die anderen – wie Delilah und T. J. und diese ganzen Sommergäste, von denen du gesagt hast, du wolltest nichts mit ihnen zu tun haben. Du hast mir nie beigebracht, über solche Dinge wie Klassenunterschiede, Geld oder Status nachzudenken. Du hast dir nie Gedanken gemacht, wer oder was passend für mich wäre. Und jetzt denkst du an nichts anderes mehr.« Zitternd atmete ich aus.
Mom kniff die Augen zusammen, offensichtlich überrascht angesichts meiner Schimpftirade. »Ich will nur das Beste für dich, Miranda«, erwiderte sie. »Sieh mal, deine Aussichten mit diesem Jungen sind unmöglich. Denk doch mal logisch. Wir fahren hier Sonntagmorgen wieder …«
»Wirklich?«, fragte ich wie betäubt. Ich hatte jedes Zeitgefühl völlig verloren. Es war der fünfte Juli, das wusste ich, aber … »Diesen Sonntag?«
Mom nickte, und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Ich wusste natürlich, dass unsere Abreise bevorstand. Aber Mom hatte in den letzten Tagen nichts davon gesagt. Wir mussten noch so viel Sachen im Haus aufräumen … und …
Und Leo. Leo.
»Haben wir etwa schon den Alten Seemann verkauft?«, rief ich verwirrt. »Ich dachte, wir würden nicht eher abreisen, bis wir einen Käufer gefunden hätten und…«
»Ich hab einen Job, Miranda«, sagte Mom mit fester Stimme. »Weißt du eigentlich, wie viel Operationen ich weniger fähigen Kollegen überlassen musste?«
»Nein«, antwortete ich und überlegte, wie wohl Moms Kollegen reagieren würden, wenn sie gesehen hätten, wie sie heute Morgen verschlafen hatte.
»Und du hast dein Praktikum«, ermahnte mich Mom. »Du wusstest doch, dass wir nicht den ganzen Sommer auf Selkie verbringen würden.« Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, ob sie sich auf unsere Abreise freute oder es bedauerte, dass wir fahren mussten; ihr Gesicht verriet nichts. »Dieser Leo …«, fuhr Mom fort, und mein Herz machte einen Satz. »Seine Welt ist hier. Aber so jemand wie T. J., jemand, mit dem du ganz andere Verbindungen …«
»Mom, ich will nicht mit T. J. zusammen sein!«, platzte ich heraus. Ich war von den Neuigkeiten viel zu aufgeregt, als dass ich meine Stimme hätte mäßigen können. »Wir haben nichts gemeinsam, nichts Echtes, aber egal. Mit ihm zusammen zu sein wäre außerdem völlig …« Ich dachte an das Wort, das Jacqueline auf der Erben-Party benutzt hatte. »Inzestuös.«
Mom zog brüskiert ihre Augenbrauen hoch. »Du und T. J., ihr seid nicht verwandt«, sagte sie steif. »Falls du das andeuten wolltest.«
Mir drehte sich der Magen um. »Nein … das habe ich nicht gemeint«, sagte ich schaudernd. »Aber ich verstehe nicht, was so falsch daran ist, jemanden zu mögen, der anders ist. Liegt das nicht in der Natur des Menschen? Ist es nicht deswegen, dass die Gattung überlebt?« Ich blickte Mom an, in der Hoffnung, dass der wissenschaftlich orientierte Teil ihres Gehirns mir folgte.
»Sieh mal«, erwiderte sie seufzend. »Es liegt auch in der Natur des Menschen, es nicht gern zu sehen, wenn die Tochter im eigenen Haus mit einem Fremden herumknutscht.«
Ich wurde wieder rot, wandte den Blick von ihr ab und sah zu den Fotos auf dem Kaminsims. Es war komisch, dass Mom sie noch nicht weggepackt hatte.
»Tut mir leid«, murmelte ich und sah wieder zu ihr. »Ich dachte bloß … auf einer bestimmten Ebene hatte ich gehofft, du wärest froh darüber, dass ein Junge, der mir gefällt, mich ebenfalls mag. Du hattest recht – ich war in letzter Zeit ziemlich einsam.« Ich atmete tief durch. Nachdem ich nun Leo mein Geheimnis verraten hatte, fühlte es sich nicht mehr so dunkel und schwer an. »Und das wegen Greg. Weil Greg … weil er mit Linda zusammen ist.«
Mom öffnete ungläubig den Mund. Ein gewisses Triumphgefühl überkam mich, nachdem es mir nun anscheinend gelungen war, sie zu schockieren. »Linda Wu?«, fragte sie. »Deine Linda?«
»Tja, das war sie früher mal«, erwiderte ich und war erleichtert, dass ich jetzt darüber lächeln konnte.
»Das ist ja schrecklich«, flüsterte Mom und runzelte die Stirn. »Warum hast du mir das nicht viel früher erzählt?«
Mit ausgestreckten Armen kam sie auf mich zu, aber ich wich ihr aus. »Ich erzähl’s dir ja jetzt«, sagte ich ruhig.
»Mein Gott«, murmelte Mom und schüttelte den Kopf. »Linda! Und Greg … er schien immer so ein netter Typ zu sein.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Siehst du? Du hast ihn gebilligt, aber er war gar nicht
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