Der Junge aus dem Meer - Roman
so nett. Mom, Leo ist wirklich in Ordnung. Ich weiß es. Kannst du dich nicht für mich freuen?«
Zu meiner Überraschung blickte Mom ebenfalls zu den Fotos auf dem Kaminsims. Sie hatte Flecken auf dem Gesicht und einen merkwürdigen Ausdruck in den Augen – Bedauern vermischt mit Erkenntnis.
»Mom?«, fragte ich vorsichtig.
»Tut mir leid, ich habe plötzlich Kopfschmerzen.« Sie massierte sich die Schläfen. »Ich gehe nach oben und lege mich etwas hin.« Dann kam sie zu mir und drückte meinen Arm. »Miranda, ich wollte nicht gefühllos sein. Wenn du irgendwann länger über die Sache mit Greg reden möchtest, dann weißt du, dass ich für dich da bin.«
Ich nickte, hatte aber im Augenblick das Gefühl, über gar nichts mit meiner Mutter reden zu können. Ich war ziemlich entmutigt. Als Mom mir gestern den Ersatzschlüssel gegeben hatte, war ich davon ausgegangen, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten beigelegt hatten und uns wieder auf friedlichem Boden befanden. Jetzt schien es, als wäre alles wieder zerbrochen.
Bevor Mom das Wohnzimmer verließ, sah sie mich an und sagte: »Ich gehe davon aus, dass heute keine weiteren Fremden zu Besuch kommen und du auch keine Ausflüge nach Fisherman’s Village machst?« Ich bemerkte, dass sie versuchte, leichthin zu klingen, doch der Ton ihrer Stimme war bestimmt.
Da sie nichts von Siren Beach gesagt hatte, fühlte ich mich in der Lage zu nicken.
Während Mom nach oben ging, stellte ich die Wassergläser ins Abwaschbecken und berührte flüchtig Leos Rosen. Ich war rastlos und nervös, fast so wie am ersten Abend im Alten Seemann, nachdem ich schwimmen gegangen war. Genau wie an jenem Abend ertappte ich mich selbst dabei, wie ich durch den Flur lief und an der Treppe und am Bild des Seemanns vorkam. An der Türschwelle zum Arbeitszimmer blieb ich stehen. Ich war seit meinem Kuss mit T. J. nicht mehr hier gewesen und überrascht, dass Mom in der Zwischenzeit nicht noch weitere Bücher eingepackt hatte. Wir waren überhaupt noch nicht für die Abreise bereit!
Während meine Gedanken von Mom zu Leo wanderten, betrat ich das Zimmer. Zumindest würde ich Leo heute Abend sehen und könnte ihm mitteilen, dass ich abreiste. Doch ich konnte nicht aufhören, an Leos Abschiedsworte oder die Tatsache zu denken, dass es ihm möglich gewesen war, mich und T. J. von einem bisher unbekannten Ort zu beobachten. Ich konnte meinen größer werdenden Verdacht nicht abschütteln. Ein Verdacht, der genauso verrückt wie unmöglich schien.
Wie jeder andere gute Schüler wusste ich, dass die Antworten auf die meisten Fragen in einem Buch gefunden werden konnten. Und es wurde langsam klar, dass meine Fragen bezüglich Leo nur von einem Buch beantwortet werden konnten. Daher trat ich auf das Regal zu, in dem
Eine Einführung in die Legenden und Überlieferungen von Selkie Island
stand. Ja, das Buch war, wie Virginia gesagt hatte, nicht mehr als eine Sammlung von Geschichten, die von Aberglaube durchtränkt waren. Doch dieser Aberglaube hatte sich in meinem Kopf festgesetzt, und ich hoffte ihn vielleicht bannen zu können, wenn ich zu seiner Quelle zurückkehrte.
Ich nahm das Buch vom Regal und machte es mir auf dem Stuhl mit der hohen Rückenlehne bequem. Ich achtete darauf, nicht zu viele Seiten herausfallen zu lassen, während ich bis zum richtigen Kapitel vorblätterte. Dann legte ich mir das Buch auf die Knie und fing an zu lesen.
Die Meerwesen von Selkie können für gewöhnlich an ein paar zentralen Merkmalen erkannt werden: eine üppige, sinnliche Schönheit; eine Vorliebe für die Farben Rot und Gold; Freundlichkeit gegenüber Besuchern und Forschern; Häuser nahe dem Strand. Manchmal sind sie desNachts erkennbar, wenn sie sich zum Schwimmen in die Gewässer vor Siren Beach begeben.
Die Meerjungfrauen und Meermänner der Insel passen sich ihrer Nachbarschaft nahtlos an. Gleichwohl schmücken oftmals bestimmte maritime Kennzeichen ihre Behausungen.
Man geht im Allgemeinen davon aus, dass sich die Meerwesen von Selkie trotz ihres gemeinsamen Vorfahren, Captain William McCloud, auf zwei verschiedene Familienzweige verteilt haben. Ein Zweig trägt häufig den Familiennamen William oder Williams, während der andere Teil der Familie Variationen des Namens McCloud verwendet.
Als ob ich mich verbrüht hätte, riss ich meine Hand vom Buch weg. Gänsehaut hatte sich auf meinen Armen und Beinen ausgebreitet. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen.
Leomaris Macleod.
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