Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
nicht.
»Wenn sie ihre Aussage ändert, ist das Meineid«, sagteich. »Kann Louise Bost ihr nicht mit Gefängnis drohen oder so was?«
»Die Frau ist neunzig Jahre alt, oder beinahe. Geschworene haben es nicht gern, wenn so jemand hart herangenommen wird – eine reizende alte zerbrechliche Dame. Mrs Underhill hat ihre Tochter verloren, ihren Urenkel, ihren Mann – und sie ist alt genug, dass sie sich immer mit Vergesslichkeit oder Senilität rausreden kann.«
»Die Frau ist hellwach.«
»Das weißt du«, sagte er, »aber die Geschworenen nicht.«
Ich sah mein Guinness an.
»Hör zu, Louise Bost hat erwähnt, du hättest sie mal besucht und dich mit ihr angefreundet. Vielleicht könntest du noch mal bei ihr vorbeigehen. Mehr sage ich nicht.«
»Wie kann sie bloß einknicken? Nach allem, was dem Jungen angetan wurde, nach allem, was sie weiß? Verdammt, wir haben zusammen geweint …«
»Familien sind seltsam.«
»Ja«, sagte ich. »Wem sagst du das.«
»Ruf sie mal an. Es kann nicht schaden.«
»Wenn sie einen Rückzieher machen will, kann ich nichts tun.«
»Versuch es trotzdem.«
»Mach ich. Natürlich mache ich das.«
Er schwieg wieder.
»Was?«, fragte ich.
»Wahrheit oder Pflicht?«
»Wahrheit.«
»Was ist passiert, dass der Fall dir so nahegeht?«
»Meine Mutter hatte mal einen Freund, der meine kleine Schwester belästigt hat. Als sie elf war. Ich habe es gerade erst rausgefunden.«
Er nickte traurig.
»Es ist nicht … Ich meine, im Vergleich mit dem Zeug,mit dem du zu tun hast, Kyle! Es ist schlimm, aber sagen wir es so, es kam nie zur Penetration.«
»Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Es geht um die Zerstörung von Vertrauen. Die technischen Details sorgen nicht maßgeblich dafür, wie viel Schaden entsteht.«
Nein. Allerdings nicht.
Später versuchte ich siebenmal, Mrs Underhill zu erreichen. Sie hatte keinen Anrufbeantworter und sie ging nicht ans Telefon.
Am nächsten Morgen rief Louise Bost den Gerichtsmediziner in den Zeugenstand. In Jackett und Krawatte sah er ganz anders aus. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt.
»Im September letzten Jahres untersuchten Sie das Skelett, das auf dem Prospect Cemetery gefunden wurde, ist das richtig?«, fragte die Staatsanwältin.
»Ja, das ist richtig«, sagte er.
»Können Sie uns sagen, zu welchen vorläufigen Erkenntnissen Sie im Hinblick auf die Identität des Opfers kamen?«
»Das Skelett war das eines Kindes, circa drei Jahre alt und von afrikanischer Abstammung.«
»Konnten Sie auch das Geschlecht des Kindes bestimmen?«, fragte Louise Bost.
»Nein. Vor der Pubertät ist es schwierig, anhand des Skeletts das Geschlecht festzustellen. Sekundäre Geschlechtsmerkmale treten erst auf, wenn ein Kind das Teenageralter erreicht.«
»Trotzdem sind Sie sich sicher, dass es sich um das Skelett von Teddy Underhill handelt?«
»Das bin ich«, sagte Dr. Merica. »Vollkommen sicher.«
»Worauf gründen Sie diese Annahme?«
»Auf einen Vergleich des Schädels mit einem Foto von Edward Underhill.«
Louise Bosts Assistent stellte ein weiteres Foto auf den Ständer. Es war das Porträt eines kleinen Jungen, der breit lächelte – das Foto, das ich auf Mrs Underhills Klavier gesehen hatte, nur zehnfach vergrößert. Teddy hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, die mir bisher nicht aufgefallen war. Der Hintergrund war rot: das Kostüm des Weihnachtsmanns, auf dessen Schoß er saß.
»Ist das das Foto, das Sie für den Vergleich herangezogen haben?«, fragte Louise Bost.
»Ja, das ist es.«
Louise Bost gab dem Assistenten ein Zeichen. Das nächste Plakat zeigte Teddys Gesicht überlagert vom Foto eines gespenstischen Schädels. Jeder Zug passte perfekt auf die Knochenstruktur darunter: Augen und Augenhöhlen, Wangen und Wangenknochen, der Punkt des Kinns und die Lücke in seinem Lächeln.
Die Geschworenen wirkten erschüttert. Ich war beeindruckt. Vielleicht hätten wir den zweiten Turnschuh gar nicht gebraucht, selbst ohne Blutprobe.
»Konnten Sie auch den ungefähren Todeszeitpunkt feststellen?«, fragte Louise Bost.
»Anhand des Zustands seiner Knochen können wir sagen, dass er zwischen drei und sechs Monate vor dem Fund des Skeletts starb.«
»Was hat Ihre Untersuchung noch ergeben?«
»Dass das Kind misshandelt wurde«, sagte Dr. Merica.
»Woran konnten Sie das sehen?«
»Teddy Underhill hatte vor seinem Tod zu verschiedenen Zeitpunkten zahlreiche Verletzungen erlitten.«
»Welche Art von Verletzungen, Dr.
Weitere Kostenlose Bücher