Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
herum.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich bin raus und hab versucht, sein Arm festzuhalten, damit er aufhört.«
»Sie waren noch ein kleines Mädchen.« Hetzler hielt die Hand etwa hüfthoch über den Boden. »Konnten Sie ihn davon abbringen, Ihrer Mutter wehzutun?«
»Er hat sie losgelassen und mich dafür gehauen. Hat mir ein paar Zähne ausgeschlagen und mich umgehauen.«
»Was tat Ihre Mutter?«, fragte Hetzler.
Angela Underhill sah weg, einen Arm über dem Bauch, und spielte am blassrosa Ärmel ihrer Strickjacke herum.
Hetzler beugte sich vor. »Angela?«
Ihre Stimme war leise. Tonlos. »Mama hat geschrien: ›Tu meiner Kleinen nich weh‹, und so, Sie wissen schon.«
»Hat Butchie auf sie gehört?«
»Gehört?« Ihre Schultern zuckten unter der rosa Strickjacke. »Er hatte ’ne Kanone.«
»Musste er sie holen?«
»Hat das T-Shirt hochgezogen, und da hab ich sie gesehen, in seinem Gürtel.«
»Und da hat er die Waffe gezogen?«
Sie nickte. »Hat sie meiner Mama ins Gesicht gehauen.«
»Mit Kraft?«
»Hat ihr die Nase gebrochen. Dann hat er sie noch mal gehauen, und da is sie über mich gefallen – so.« Angela hob die Arme und kreuzte sie an den Handgelenken.
Hetzler sagte kein Wort.
Sie ließ die Arme wieder sinken.
»Was ist dann passiert?«
»Butchie is ganz nah rangekommen und hat sich runtergebeugt. Hat gesagt: ›Halt’s Maul‹, und hat Mama zweimal in den Kopf geschossen. Dann is er gegangen.«
»Er hat Sie dort zurückgelassen?«
»Erst hat er das Licht ausgemacht. Und dann hat er die Tür hinter sich zugemacht.«
Hetzler ließ die Worte sacken.
Angela spielte wieder an ihrem Ärmel herum, als wäre ihr gerade eingefallen, dass sie noch Milch und Eier kaufen musste.
»Sie blieben eine lange Zeit dort liegen, nicht wahr, bei Ihrer Mutter im Dunkeln?«
Ein kurzer Blick auf die Geschworenen verriet mir, dass ich nicht die Einzige im Saal war, die sein euphemistisches »bei « im Stillen durch »unter« ersetzte. Die geschickte Lockvogeltaktik eines einzigen Worts machte Hetzler zu einem mitfühlenden Mann und seine Klientin unseres Mitgefühls wert.
Angela Underhill sah nicht von ihrer Strickjacke auf. »Bis zum Morgen. Hab ’n bisschen geschlafen, zwischendurch.«
»Erinnern Sie sich sonst noch an etwas in jener Nacht?«, fragte Hetzler.
Angela Underhill schürzte die Lippen und dachte nach. »Zuerst war Mama warm. Dann war sie kalt.«
»Und wer hat Sie gefunden?«
Sie hob das Kinn in Mrs Underhills Richtung, die in der ersten Reihe im Zuschauerraum saß. »Jemand hat meine Großmutter angerufen.«
»Angela«, sagte Hetzler, »Ihre Mutter wurde in jener Nacht getötet, weil sie Sie beschützen wollte, nicht wahr?«
Ihre rosa Schultern zuckten wieder. »Mama ist gestorben. Das is alles.«
Hetzler tätschelte ihr die Hand. »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«
»Ms Underhill«, sagte Louise Bost, »ich möchte Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Freund Albert Williams stellen.«
Angela Underhill nickte.
»War er Teddys Vater?«
»Nein.« Sie legte die Hände schützend auf ihren dicken Bauch.
»Wie lange sind Sie beide zusammen?«, fragte Louise Bost.
»Zwei Jahre oder so.«
»Als Sie und Albert Williams zusammenzogen, lebten Sie in Brooklyn, nicht wahr?«
»Das stimmt«, sagte Angela.
»Warum verließen Sie Ihre Wohnung und zogen nach Queens?«
»Wegen der Sozialarbeiterin«, sagte Angela.
»Was war passiert?«
»Die Frau von unten. Die hat uns angezeigt.«
»Weswegen, Ms Underhill?«
Angela schwieg.
»Ms Underhill? Weswegen hat Ihre Nachbarin Sie angezeigt?«
»Sie hat gesagt, wir würden Teddy wehtun.«
»Und stimmte das?«
»Ich nicht«, sagte Angela und hob das Kinn.
»Aber Mr Williams tat Ihrem Sohn weh?«
»Wenn Teddy frech war.«
»Können Sie uns sagen, was Sie damit meinen, wenn er ›frech‹ war?«
»Wenn er zu langsam gegessen hat oder so rumgejammert hat.«
»Wenn Ihr dreijähriger Sohn also langsamer aß, als Mr Williams angemessen fand, was tat dieser dann?«
»Manchmal.«
»Manchmal was?«
»Nur manchmal. Nicht immer«, sagte Angela.
»Bei den Gelegenheiten, wenn Teddys Essgeschwindigkeit Mr Williams missfiel, was tat er dann?«
»Hat ihn gehauen oder so. Oder geschüttelt.«
»Was tat Teddy dann?«
Sie zuckte die Schultern. »Hat geheult.«
»Und was taten Sie , Ms Underhill, wenn Ihr Freund Ihren Sohn schlug?«
»Einmal hab ich versucht, dass er aufhört.«
»Was ist dann passiert?«
»Albert hatte ein Messer. Hat
Weitere Kostenlose Bücher