Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
geändert.
11
Dean war schon angezogen, als ich atemlos zu Hause aufkreuzte.
Er trug frisch gebügelte Khakihosen und ein Brooks-Brothers-Hemd, und sein Haar war noch feucht von der Dusche.
Dann sah er mich, verschwitzt in grasfleckigen Jeans und einem schmutzigen T-Shirt, das feuchte Tuch um den Hals, und erklärte: »Ich glaube, ich bin nicht schick genug anzogen.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. »Halt die Klappe, Großer. Ich wette, du hast mir nicht mal ein trockenes Handtuch übrig gelassen.«
Er legte mir die Hand unters Kinn und gab mir einen Kuss auf den Mund. »Ich habe dir zwei hingelegt, gefaltet neben dem Waschbecken. Ich dachte mir schon, dass du es eilig hast.«
»Danke«, rief ich und rannte an ihm vorbei.
Nachdem ich den Weltrekord im Schnellduschen gebrochen hatte, schlüpfte ich hastig in saubere Jeans, ein weißes T-Shirt, eine falsche Perlenkette und das am wenigsten abgelatschte Paar der belgischen Ballerinas meiner Urgroßmutter, die ich in unserem Schrank finden konnte – meine Antwort auf Astrids unvermeidbare Ferragamos. Dann schminkte ich mich schnell.
Mein Haar konnte unterwegs trocknen.
Mit Ohrringen in der Hand kam ich ins Wohnzimmer zurück.
»Weißt du, wo es hingeht?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Dean. »Irgendein Vietnamese.«
»U-Bahn oder Taxi?«
»Taxi«, sagte er. »Südlich der Fourteenth sind wir beide verloren.«
»Sue und Pagan?«
»Im Chino-Latino-Diner auf der Ninth. Wir treffen sie vielleicht später auf einen Drink.«
»Cool«, sagte ich. »Ab die Post.«
Im Eilschritt hasteten wir über die Sixteenth Street, um uns auf der Seventh Avenue ein Taxi zu schnappen. Unsere Gegend war nicht besonders aufregend – eine Art Niemandsland nördlich des Village. Der einzige Wermutstropfen für mich war das Luxuskaufhaus Barney’s an der nächsten Ecke.
Etwas an dem vielstöckigen Warenhaus, das fast einen ganzen Block einnahm, ging mir mächtig ins Getriebe, nicht zuletzt, dass dort Hundert-Dollar-Socken und Dreißig-Dollar-Badekugeln zu Hause waren. Meine Mutter erinnerte sich angeblich an eine Radiowerbung von früher, als Barney’s zwei Paar Hosen zu jeder billigen Anzugjacke verschenkte.
Doch heute zog Barney’s die Sorte widerlich arroganter, reicher Eurotrash-Angeber an, vor denen ich mich in meinem Stadtleben am liebsten versteckte: abgezehrte Kleingeister wie die blöde Kuh neulich in der Bäckerei.
Das einzig Gute an Barney’s war: Es war ein Magnet für Taxis.
Dean winkte eines heran, und dankbar rutschten wir auf die Rückbank, die nach künstlichem Pinienaroma und schalem Zigarrenrauch roch.
»Erzähl mir vom Friedhof«, sagte Dean, nachdem wir die Fenster heruntergekurbelt hatten.
Er hob den Arm, damit ich mich an ihn kuscheln konnte, und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Sie gehen davon aus, dass das Kind um die drei Jahre alt war. Sieht aus, als wäre es totgeprügelt worden«, sagte ich.
»Woher wissen sie das?«
»Der Brustkorb war zertrümmert, zum Beispiel.«
Er drückte mir die Schulter, als ich ihm von den alten Knochenbrüchen erzählte.
»Ein dreijähriges Kind.« Dean schüttelte langsam den Kopf. »Und dann bist du mit Cate aufs Revier?«
»Wir konnten nicht viel dazu sagen, und anscheinend ist es fast unmöglich festzustellen, wer das Kind war.«
Ich erzählte ihm von den Zahnarztunterlagen und den vierzigtausend nicht identifizierten Toten und so weiter.
Dann starrte ich schweigend auf den gelben »Nichtraucher – Fahrer allergisch«-Aufkleber an der zerkratzten Plexiglasscheibe zwischen uns und dem Fahrer.
»Du wirst die Sache nicht auf sich beruhen lassen, oder?«, fragte Dean.
»Du kennst mich zu gut.«
»Du musst dich nicht weiter einmischen, Bunny. Nicht mehr, als du schon drinsteckst.«
»Ja. Ich weiß.«
»Bunny …«
Ich sah zu ihm hoch.
Er legte mir sanft die Hand in den Nacken und küsste mich.
»Hier wird mit harten Bandagen gekämpft«, sagte er. »Und die Bullen wissen, was sie tun, okay?«
»Okay«, sagte ich.
»Dann lass die ihren Hals riskieren. Ich will nicht, dass dir was passiert.«
»Versprochen.«
Er küsste mich wieder, doch wir wussten beide, dass ich log.
Das Taxi hielt vor einem schmuddeligen Gebäude auf der Mott Street. Dean gab dem Fahrer zehn Dollar und bat um drei zurück, während ich versuchte, die finsteren Ereignisse des Tages abzuschütteln und auf Cocktail-Geplänkel-Modus umzuschalten.
Noch nie war mir ein solcher Wechsel ohne
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