Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Brüche zu sehen.«
Mir blieb die Luft weg. Schockiert schüttelte ich den Kopf und hob die Hände, als könnte ich die Vorstellung von mir fernhalten.
»Alles klar?«, fragte Skwarecki leiser, diesmal ohne die kühle Fassade, als sie die Tränen in meinen Augen sah.
»Ja, schon gut«, sagte ich. »Ich bin nur unglaublich wütend.«
»Das ist gut.«
Ich wischte mir die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wie zum Teufel können Menschen so was tun?«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Ein kleines Kind!«
»Ich weiß.«
»Geht Ihnen das auch so nahe?«
»Jedes einzelne verdammte Mal.«
»In Ihrem Beruf müssen Sie verdammt hartgesotten sein.«
»Nicht alle Fälle sind so schlimm«, sagte sie. »Meistens bringen sich ein paar miese Typen gegenseitig um, wissen Sie. Aber ein Kind …«
»Wird es mit der Zeit einfacher?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nie.«
»Hilft es, wenn Sie den Täter fassen?«
»Ja«, sagte sie. »Das ist der Grund, warum ich weitermache. Warum ich an meinem Job hänge. Jeden Morgen stehe ich auf und habe das Gefühl, ich tue was Sinnvolles , verstehen Sie?«
»Aber diesmal – glauben Sie überhaupt, es gibt eine Chance?«
»Bei einem Kleinkind gibt es wahrscheinlich keine Zahnarztunterlagen, die uns bei der Identität weiterhelfen. Und die Todesursache nachzuweisen …?« Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Wo fangen Sie an?«, fragte ich.
»Wir gehen die Vermisstenanzeigen durch. Hoffen auf einen Treffer.«
»Wie hoch sind die Chancen?«, fragte ich.
»Beschissen«, sagte sie. »Wir haben vierzigtausend nicht identifizierte Tote in den Vereinigten Staaten. Wir nennen sie Jane Doe und John Doe und Baby Doe.«
»Vierzigtausend?« Ich versuchte mir die Zahl vorzustellen – eine Kleinstadt von verlorenen Seelen, buchstäblich.
»Genaue Zahlen gibt es nicht«, fuhr sie fort. »Es gibt nämlich keine nationale Datenbank.«
»Nicht mal beim FBI?«, fragte ich.
»In den meisten Fällen bleibt die Sache bei der örtlichen Polizei«, erklärte Skwarecki. »Selbst wir haben noch etliche Does auf Karteikarten, dabei ist unser Budget eins der höchsten im ganzen Land. Aber bis vor ein paar Jahren musste man sogar hier die Polizeiberichte noch mit der Hand durchgehen, wenn man was suchte.«
»Besteht überhaupt eine Chance rauszufinden, wer unser Kind ist?«
Louise Bost stellte sich neben mich. »Wir haben einenVorteil. Die Leiche lag nicht sehr lange dort. Sechs Monate, plus/minus.«
Unwillkürlich stellte ich mir vor, welche Art urbaner Fauna in der Lage war, einen kleinen Leichnam in einem halben Jahr bis auf die Knochen zu verputzen.
Ratten. Ameisen. Kakerlaken.
Mir wurde schlecht, und ich schloss einen Moment die Augen, was es nur schlimmer machte.
Skwarecki tätschelte mir das Knie. »Hey, das ist gut . Darauf konnten wir nur hoffen.«
»Na gut«, sagte ich, doch ich kämpfte immer noch gegen den Brechreiz.
»Was passiert jetzt?«, fragte Cate, die sich auf den Stuhl neben mich setzte.
»Zuerst«, begann Skwarecki, »beten wir, dass das Opfer aus der Gegend stammte und dass irgendwas am Fundort auftaucht, das uns hilft, es zu identifizieren …«
»Und dann«, fiel die Staatsanwältin ihr ins Wort, »beten wir doppelt so fest, dass jemand genug an ihm hing, um sein Verschwinden zu melden.«
10
Bei der offiziellen Aussage hatten Cate und ich eigentlich nicht viel zu sagen. Wir hatten Skwarecki und Louise Bost bereits erzählt, wie wir jeweils auf dem Friedhof gelandet waren.
Ich beschrieb, wie ich die Knochen gefunden hatte, und erklärte, dass ich sie nicht angerührt, sondern das Gestrüpp sofort verlassen und zu schreien angefangen hätte. Wir hinterließen unsere Adressen und Telefonnummern, bei der Arbeit und zu Hause.
Beide baten wir, auf dem Laufenden gehalten zu werden, falls bei der Spurensicherung noch was auftauche, und Cate fragte, ob es in Ordnung sei, wenn sie, nachdem die Polizei am Fundort fertig sei, wieder auf dem Gelände arbeite.
»Vielleicht finden wir beim Roden noch etwas«, sagte sie. »Etwas, das bei der Identifizierung hilft.«
Skwarecki war einverstanden, doch sie bat Cate, nicht zurückzugehen, bevor man sie nicht anrief und ihr offiziell grünes Licht gab.
»Nächsten Mittwoch hat sich eine Gruppe Freiwilliger angemeldet«, sagte Cate. »Meinen Sie, das ist Zeit genug?«
»Wahrscheinlich«, sagte Skwarecki, »aber warten Sie auf jeden Fall, bis Sie von mir hören, in Ordnung?«
»Auf jeden Fall«, sagte Cate, »keine Frage.«
Louise Bost
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