Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
den ernst gemeinten Konsum echter Cocktails leichtgefallen. Erst recht nicht in Gesellschaft reicher Europäer.
Ich sah wieder auf die Uhr: Viertel nach acht. Genau richtig.
»Bitte, lieber Gott«, murmelte ich, als ich beim Aussteigen nach Deans Arm griff und mich für das Bevorstehende wappnete, »mach, dass in dieser verdammten Spelunke Alkohol ausgeschenkt wird.«
Von der Straße stiegen wir auf einer geschwungenen Treppe mit kitschigem verschnörkeltem Pseudogusseisengeländer ein halbes Stockwerk nach unten. In Kombination mit der scharlachroten Brokattapete im Gastraum kam mir das Setting vor, als hätte ein schlecht beratener Vorbesitzer versucht, die Bourbon Street zur Zeit der Partridge Family heraufzubeschwören.
Zwar roch es nach dem angenehmen indochinesischen Aroma von Anchovis und Limetten, aber ich hatte meine Zweifel, ob Astrid das Lokal wegen des guten Essens vorgeschlagen hatte oder aber deswegen, weil es zu dem verschwommenen Bild passte, das sie sich von meinen bedauerlichen neuarmen Umständen machte.
Darling, du wirst Madeline lieben; sie ist so … bohemian.
Vielleicht hätte ich mir eine Baskenmütze aufsetzen und Blut in ein fadenscheiniges, aber frisch gestärktes Spitzentaschentuch husten sollen.
Doch dann winkte uns Astrid quer durch den Raum zu, lächelte mich mit ihrem alten frechen Grinsen an, und schon war ich nur noch froh, meine liebe Freundinwiederzusehen, ohne Angst, die Wahl des schäbigen Etablissements könnte bedeuten, dass sie nicht mit uns gesehen werden wollte.
Und wie immer war jedes Augenpaar auf sie gerichtet.
Ich könnte sagen, der Vorhang ihres dichten, glatten Haars glänzte wie mit Schellack poliertes Mahagoni, ihre Haut hatte die Farbe von frischer Sahne mit einem Tropfen Kaffee, ihre Rehaugen waren hypnotisch, ihre Brauen heroisch geschwungen, ihr Mund sinnlich und voll, ihre Wangenknochen brachten jedes Herz zum Schmelzen – aber all das war irrelevant.
Das war es, was bei den Leuten hängen blieb, wenn sie Astrid sahen: Sie war schlicht das allervorzüglichste menschliche Wesen, das sie je gesehen hatten.
Ich meine nicht schön, ich meine, sie war buchstäblich umwerfend , und das heißt, ich habe Fremde auf der Straße bei ihrem Anblick blass werden und taumeln sehen.
Das Tragische war, dass sie außerdem hochintelligent war.
Wäre sie hässlich oder dumm gewesen, hätte sie vielleicht eine Chance auf Glück gehabt.
Astrid und ihr Gatte standen auf, als wir ihren Tisch erreichten. Sie trug eine gesteppte schwarze Samtjacke mit einer großen Kapuze. So überaus Chanel.
Dann umarmte sie mich und sagte: » Che bella, Madeline, ich dachte schon, du würdest nie auftauchen.«
Hände wurden geschüttelt und wir setzten uns. Der frischgebackene Ehemann drängte Dean und mir die Cocktailkarte auf, und dann schaffte er es auf wundersame Weise, eine Kellnerin mit unseren Drinks auftauchen zu lassen.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und hatte – seit langer Zeit zum ersten Mal – das Gefühl, dass die Welt in Ordnung wäre.
Eine faustgroße Kakerlake krabbelte über die Scheuerleiste und anschließend die fusselige Tapete hinauf.
»Reizender Ort«, sagte ich. »Kommt ihr oft hierher?«
12
Eigentlich schien Christoph ganz nett zu sein und interessant, was mich beides überraschte. Er war wahrscheinlich zwanzig Jahre älter als wir: schlank, mit einer Restsommerbräune, die sein Gesicht warm wirken ließ, und zurückgekämmtem braunem Haar, das sich hinter den Ohren ein wenig lockte.
Die Kellnerin hatte mehrere Teller mit Sommerrollen auf den Tisch gestellt, dünnen Reispapierwickeln, durch deren Haut die Farben von Shrimps, frischem Koriander und gehackten Erdnüssen schimmerten, und wir waren fast mit der zweiten Getränkerunde durch.
»Wir importieren also diese wunderbaren Maschinen aus Europa«, sagte Christoph zu Dean, »aber es stellt sich als sehr schwierig heraus, den Amerikanern beizubringen, wie man sie richtig bedient.«
Mein Mann nickte und legte sich eine Sommerrolle auf den Teller. Der Rest des Essens lag unberührt da, sein Dekorationswert war höher als sein Nährwert.
Astrid, die sich zu langweilen begann, legte die Hand auf den Arm ihres Mannes.
»Darling«, sagte sie, »Maddie ist eine Liberale. «
Christoph lächelte mich ironisch an, um seine Augen kräuselten sich Falten.
»Wirklich? Erstaunlich. Du wirkst wie eine intelligente Frau.«
»Astrid hat meine politische Gesinnung immer als traurigen Schwachpunkt meiner
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